Grönland – ganz links oben ein Stück des Glücks

Nein, dieser Bericht hat nichts mit Bergsteigen zu tun, sondern nur mit Glück. Nein, nicht dieses schwülstige, metaphorische Glück vom erfüllten Leben auf der Insel der Seligen und dgl. Es geht hier nur um profanes Glück, wie etwa ein Lottosechser. Nein, leider hat auch niemand, den ich kenne, einen Lottosechser gewonnen, allerdings scheffeln die Lotterien mit ihren Glücksversprechen jede Menge Geld.
In Grönland wird ein Teil dieses Reichtums wieder an die Bevölkerung umverteilt in Form von Förderung von Wissenschaft und Kunst von Grönländern in Grönland (1. Glück). Zusammen mit zwei weiteren österreichischen Wirtschaftsflüchtlingen – eben einer in Grönland, der andere in Utrecht(2. Glück) – bekamen wir ein kleines Forschungsprojekt bewilligt (3. Glück), das uns erlaubt, in Grönland glaziologisch zu arbeiten. Im Norden Grönlands besteht der Eisrand der Gletscher und Eiskappen häufig aus senkrechten Wänden mit einer Höhe von 3-30 m. Dieses Phänomen vor Ort näher zu untersuchen ist das Ziel, weil wenig von diesen Eiswänden bekannt und ihr Verhalten recht widersprüchlich ist.
Der beste Logisitk-Stützpunkt im Nordwesten Grönlands ist die Thule Air Base der U. S. Air Force – ein Stützpunkt im Sinne des Wortes. Da spaziert man nicht einfach ein und aus. Es ergab sich nun, dass Jakob ein paar Wochen vorher als Repräsentant der grönländischen Regierung in einer größeren, politisch sensiblen Expedition von Thule aus am Camp Century (am grönländischen Inlandseis) operierte (4. Glück), weshalb es vielleicht den Amerikanern richtig schien, auch seinen österreichischen Kollegen ein Visum für die Thule Air Base zu genehmigen (5. Glück). Das Visum ist eines, dorthin kommen etwas anderes. Es gibt monatlich einen Direktflug von Kopenhagen nach Thule. Dieser wird vom dänischen Außen(?)ministerium von Air Greenland gechartert, wobei die Buchung nur über einen speziellen Beamten der amerikanischen Botschaft in Dänemark erfolgen kann, mit bestätigtem Visum natürlich. Klingt kompliziert, ist es auch, aber ein Ticket hatten wir nach viel Wirrwar im letzten Abdruck noch erhalten (6. Glück). Somit war klar, wir dürfen hin und kommen auch hin.
Von sechs verschieden Forschungsinstitutionen konnten wir allerhand Geräte und Logistik ausleihen (7. Glück) und schonten damit unser Budget für die erheblichen Reisekosten (z.B. Helikopter per Flugminute ca. € 70,-). Wir planten auch einige Geräte von der Camp Century Expedition zu leihen, aber schlechtes Wetter hatte mehrere von deren geplanten Rückflügen verhindert und es war nur mehr möglich Personen auszufliegen. Der Großteil deren Ausrüstung blieb bis zum nächsten Schönwetterfenster am Eis. Wie auch immer, wir konnten diverse Notwendigkeiten (Kocher, Bohrmaschine, Schi, Generator, Waffen, Munition, …) in Thule organisieren (8. Glück), weil wohl die Hilfsbereitschaft am Ende der Welt an wenige Bedingungen geknüpft zu sein scheint (9. Glück).
Nachdem alles sorgsam gepackt und gewogen worden war, waren wir bereit für den Helikopterflug zur Eiswand, doch das Wetter war es nicht. Tiefe Wolken, Regen, Nebel verhinderten unseren Aufbruch. Für ein „Schau ma mal“ (hinfliegen und dann unverrichteter Dinge umkehren) fehlte das Budget, also war die Devise „Wart ma mal“. Jedoch mit der Wetterprognose für die nächsten Tage im Hinterkopf wussten wir, wenn wir heute nicht aus Thule raus kommen, kommen wir die nächsten fünf Tage auch nicht raus und dann sind erhebliche Abstriche in unserem ambitionierten Plan notwendig. Nach der dritten Ausfahrt mit dem Piloten (siehe 9. Glück) zu einem erhöhten Aussichtspunkt, um die Wolkenuntergrenze weiter im Inland abzuschätzen, zeigte er sich schließlich zuversichtlich. Nach etwa einer halben Stunde Flug über eine der irresten Gegenden des Planeten waren wir endlich dort (10. Glück) – am Red Rock Ice Cliff (77°N|68°W), dort wo sich die Nunatarssuaq Eiskappe und das grönländische Eisschild treffen. Zehn Tage in einer Landschaft die gleich schön wie abweisend ist, zehn Tage, auf die wir uns in den letzten Monaten so gut es ging vorbereitet hatten.
Es war schon später Nachmittag als wir endlich ankamen, aber weil es auch mitten in der Nacht noch taghell ist, konnten wir nach dem Lageraufbau noch einige Sensoren anbringen und uns mit der Umgebung vertraut machen. Wir staunten nicht schlecht über den ganzen Müll, den zwei amerikanische Expeditionen aus den 1950er und 1960er Jahren hier hinterlassen hatten. Neben zerfetzten Planen, verrosteten Bettgestellen und unzähligen verbeulten Ölfässern lagen noch intakte Pakete mit Konservendosen. Diese beseitigten unsere noch letzte große Unbekannte, die uns seit der Planung etwas im Magen lag: Es gibt hier keine Eisbären. Wir müssen also nicht abwechselnd in Wind und Wetter eine Eisbärenwache schieben (11. Glück). Allerdings gab es entgegen der Erwartung unseres Halbgrönländers Jakob auch keine Hasen zur Aufbesserung des Speiseplanes. Noch einen Vorteil hatte der Müll. Aus den Haufen von Brettern und Stangen konnten wir uns bedienen und diverse Konstruktionen improvisieren (12. Glück), die wir in Thule nicht mehr auftreiben konnten.
In den ersten drei Tagen war das Wetter mäßig. Wolken, Regen und vor allem der beständig starke Wind machten aus knapp über null Grad gefühlte Temperaturen von deutlich unter null Grad. Ich hatte mich gerade über die Eiswand abgeseilt, um Pegelstangen zu bohren. Der Wind blies derart stark, dass ich schon wenige Meter unterhalb der Kante nur mehr im Bach aus Regen- und Schmelzwasser arbeitete, der eigentlich etliche Meter neben mir über die Wand stürzen sollte. Aus Gore-Tex wurde Wettex. Es war ein schwacher Trost zu sehen, dass ohnehin die ganze Wand ein einziger Wasserfall war. Ich musste noch ein zweites Mal abseilen, um alle Arbeiten abzuschließen. Immerhin stand zum (13.) Glück immer noch das kleine Klohäuschen der Amerikaner, welches bei unausweichlichen Geschäften den Allerwertesten vor Wind und Wetter komfortabel schützte. Bei ständig schlechter werdenden äußeren Bedingungen gingen unsere Arbeiten gut voran. Dank des täglichen Wetterberichtes von Jens, dem dänischen Verbindungsoffizier, pünktlich zum Frühstück per Satellitentelefon aus Thule übermittelt, ließ sich unsere Prioritätenliste gut einteilen. Darauf standen u.a.: Wetterstationen und Zeitrafferkameras auf- und abbauen, Pegelstangen entlang diverser Profile ins Eis bohren und regelmäßig ablesen, Eistemperaturmessungen in verschiedenen Tiefen und Standorten installieren, etliche Punkte geodätisch einmessen, mehrere Kilometer Bodenradarprofile ziehen, wiederholte Messungen von Wasserstand, Abfluss, Schmelze, Sublimation und photogrammetrische Aufnahmen.
Dann kam der Sturm – seit Tagen vorhergesagt und schließlich eingetroffen. Am späten Vormittag des vierten Tages stellten wir die Arbeiten ein und verkrochen uns nach dem Mittagessen in den Schlafsack. Wind und Regen legten ständig zu, die Böen rissen an den Zeltwänden, die Tropfen prasselten: Für einen erholsamen Schlaf war es einfach zu laut. Am nächsten Morgen lag das Gemeinschaftszelt eingedrückt am Boden. Unsere ganze Ausrüstung war schwer genug, dass das Zelt wenigstens noch ortsfest war (14. Glück). Heringe und Ösen waren ausgerissen, eine Stange gebrochen, eine andere aus der Führung durch das Außenzelt getrieben, das Innenzelt ein wenig aufgeschnitten, im Innenraum lag alles kreuz und quer. Wir drückten mit vereinten Kräften das Zelt wieder auf, stemmten es sechs Stunden gegen den Sturm und Jakob reparierte es in Sturm und peitschendem Regen von außen notdürftig soweit es ging. Am Nachmittag ließ der Wind nach, es wurde etwas kälter und zwischen den Schneeschauern sahen wir nach sieben Tagen in Grönland zum ersten Mal die Sonne. Somit konnten wir unsere Arbeiten wieder aufnehmen, auch wenn ich mich vor allzu langen Märschen am Eis drücken musste. Meine zwei geliehenen und aber linken Steigeisen, verdrehten meinen rechten Fuß mit der Zeit so sehr, dass ich etwas kürzer zu treten hatte. Jedoch bei unserem starken Team waren die Schwächen eines anderen schnell kompensiert (15. Glück). Am vorletzten Tag war der Wind soweit abgeflaut (16. Glück), dass nun auch die photogrammetrische Vermessung mithilfe einer Drohne möglich wurde. Doch irgendwie verlor diese Diva immer wieder ihre Kontakte zu GPS und Bodenstation und zerschellte gleich beim ersten Versuch ungebremst aus beachtlicher Höhe am Geröllboden. Entgegen aller Erwartungen surrte die Diva noch (17. Glück) und erfüllte nach dem Tausch der gebrochenen Propeller widerwillig aber immerhin ihre Aufgabe.
Am letzten Tag genossen wir stolz etwas Freizeit. Bei solchen Unternehmen kann man schon zufrieden sein, wenn die Hälfte der geplanten Arbeiten erfolgreich ist, wir hatten alle geplanten Arbeiten erledigt und sogar durch Rationierung und eiserne Disziplin unseren Vorrat an Alkohol über die Zeit gebracht. Wir packten also unsere letzte Flasche Wein, das letzte Stück Speck und unser Jagdgewehr und verdienten uns einen Ausflug. Am Gipfel des Dryas Mountain nahm ein Schneehuhn Jakobs perfekten Schuss an (18. Glück) und empfing mit Weidmannsdank seine letzte Äsung. Schnell war ein geeigneter Platz ohne Wind, mit Sonne und sagenhaftem Ausblick für eine gebührende Jause gefunden. Zurück bei den Zelten gab es bei Lagerfeuerromantik (siehe 12. Glück) ein Festmahl zur Feier unseres letzten Abends.
Am nächsten Morgen kam pünktlich der Helikopter und auch Jens nahm unsere Einladung für einen Rundflug dankbar an. Vielleicht beeindruckt von unserer Arbeit, jedenfalls aber erfreut über den taktischen Konturenflug durch Canyons, über Flussdeltas und entlang von Kalbungsfronten gigantischer Gletscher revanchierte er sich nachmittags mit einer Tour auf den Hausberg von Thule und abends mit einer Runde Bier. In Jens haben wir einen großartigen Kontakt für eine eventuelle Fortsetzung der Messungen gefunden (19. Glück), der trotz seiner über 20jährigen Kampferfahrung auf fast sämtlichen Kriegsschauplätzen der Erde und über 2000 Fallschirmsprüngen ein sensibler und intelligenter Mensch geblieben ist. Pflichtbewusst und wohl aus Erfahrung klug hielt Jens den Zapfenstreich. Bei den Glaziologen folgte natürlich nach einem Bier ein weiteres, … und irgendwoher tauchte dann noch eine Flasche Pinot Grigio auf (einziges Unglück), der seinem Namen wirklich keine Ehre machte und uns noch lange am nächsten Tag durch den Kopf spukte: Material sortieren, reinigen, retournieren, aufräumen, Kisten schleppen, packen, dafür etliche Hangars, Lager, Barracken und Büros aufsuchen, bedanken, hoangaschten und leider auch verabschieden. Die letzte Überraschung hielt der Check-in bereit. Wir wussten, dass wir weit über der 20 kg Freigepäcksgrenze waren, mit Übergepäck hatten wir ja kalkuliert, aber das kleine Propellerflugzeug nach Kangerlussuaq war randvoll mit Passagieren, Gepäck und Treibstoff, so dass das Wort Übergepäck aus dem Vokabular gestrichen wurde. Aber weil Jakob alles organisieren kann und das Material vom Camp Century ohnehin mit dem Schiff irgendwann nach Europa fährt (20. Glück), konnten wir auch hier improvisieren.
Jetzt wo ich zuhause bei meiner Familie (größtes Glück) diesen Bericht zusammenstelle, drängt sich aber die Frage auf, wann das Maß an Glück sich wieder sein Gleichgewicht sucht. Ich fürchte diesen Tag …
Jakob Abermann, Asiaq – Greenland Survey
Jakob Steiner, Universität Utrecht
Rainer Prinz, Universität Graz
- dav