Zweite unmittelbare Begehung der Königsspitze Nordwand

Am 1. September 1935 zogen Hermann Treichl und ich bei Laternenschein über Moränen und Eis dem Einstieg zu; die Gedanken weit voraus, in der Wand. Wie wird es uns gehen? Zugleich aber dachten wir an die Bergsteiger, Heinrich Lettenbichler und Max Huber, die am 4.Juli 1932 auf diesem Anstieg einer Eislawine zum Opfer fielen.

Um den Hängegletscher, den Königswandferner, zu umgehen, benützen wir den üblichen Anstieg zum Mitschergrat und betraten den Ferner erst oberhalb des zerklüfteten Teiles. In der Fallinie des Gipfels einzusteigen war ganz unmöglich; denn mächtige Eisüberhänge wölbten sich über die Randkluft. Etwas recht der Fallinie erkannten wir die schwächste Stelle, die aber ebenfalls nur mit harter Arbeit zu überwinden sein dürfte. Ausgerüstet mit Eis- und Mauerhaken, stiegen wir um ½8 Uhr morgens in die Wand ein. Freund Hermann, erklärte sich gleich bereit den Kampf zu beginnen.

  Ununterbrochen rasten Windfahnen die Wand herab und bedeckten uns und alles um uns mit feinem Pulverschnee. Mein Gefährte hatte es nicht leicht, bei diesem Sturm an der steilen Eiswand emporzukommen. Ich konnte ihn bei seiner schweren Arbeit kaum beobachten, denn bald war mein Gesicht mit einer Eiskruste überzogen. Nur am Seil, das sehr langsam durch meine Hände lief, war zu verspüren, daß der erste ordentlich zu schaffen hatte. Vorsichtig, um ja nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hackte er Griffe und Tritte aus. Ein plötzlich mit unerwarteter Kraft daherfegender Windstoß warf Hermann aus seinem unsicheren Stand und schleuderte ihn kopfüber in den Pulverschnee hinab. Zum Glück war nichts passiert. Hermann stand gleichwieder auf den Füßen; er schüttelt sich den Schnee von seinen Kleidern und spielte nachher auf seiner Mundharmonika den „Auftriebsmarsch“. Noch einmal, mit noch größerer Vorsicht, packte er den steilen Eishang an. Ich hatte schon ganz kalte Füße, als ich endlich das ersehnte Wort „ Nachkommen!“vernahm. Die Stimmbänder mußten gewaltig angestrengt werden, wollte man sich bei diesem Sturm verständlich machen. Kaum daß ich die Worte „schlechter Stand“ vernehmen konnte. Langsam stieg ich nach. Wir verwandelten unsere zerlegbaren Pickel in Eisbeile, denn die Eiswand wurde zunehmend steiler. Dann bemühten wir uns allmählich nach links in die Fallinie des Gipfels zu gelangen. Doch dabei stellten sich uns große Schwierigkeiten in den Weg. Die vereisten Felsen waren mit einer Pulverschneeschicht bedeckt. Bei schlechter Sicherungsmöglichkeit mußten wir jeden Griff und Tritt freilegen, was diese Querung äußerst schwierig gestaltete. Eishaken war hier überhaupt keiner anzubringen und auch die Felshaken fanden hier nur schlechten Halt. Mein Gefährte stieg nach, wir wechselten wieder n der Führung und er arbeitete sich an einer Felsrippe hoch. Nur in den erstenVormittagsstunden schien die Sonne in die Wand hinein; aber dies genügte um so manchen Fels und Eisbrocken von ihr zu lösen. Langsam ging es aufwärts. Ich beobachtete gespannt jede Bewegung meines Kameraden, der ruhig und sicher eine weitere Seillänge erkämpfte. Dann fiel mir die Aufgabe zu, einen heiklen Quergang anzulegen. Kurz wurde überlegt, wie dieser am besten gelingen könnte. Ich stieg einige Meter ab und versuchte den Quergang von dort anzupacken. Schneebedeckte Platten, über die hinweg zu kommen nicht möglich war, verwehrten mir nach einigen Metern das Weiterkommen. Mit Benützung kleiner Griffe schob ich mich wieder höher. Jetzt schien es aber endgültig Schluß zu sein. Ich trieb noch rasch einen Haken ein.
Und was nun? – Zurück?
Soll unser fester Glaube an die Bezwingung der Wand an dieser Stelle sein Ende finden? Nein – es muß gelingen! Der Haken sitzt ja gut. DA wagte ich einen großen Spreizschritt nach links. Der Fuß fand nur geringen Halt und ich wühlte, nach Griffen suchend, mit den Händen im Schnee herum. An einem festgefrorenen Felsblock verkrallt, ohne die geringste Sicherheit, überwand ich diese schwere Stelle. Um eine brüchige Kante mußte ich noch herum, dann konnte der Gefährte, durch einen guten Standhaken gesichert, nachfolgen. Eine Seillänge noch und wir hatten den schwersten Teil der Königsspitze Nordwand hinter uns. Endlich konnten wir uns Zeit nehmen, um unseren Hunger mit Zucker, Brot und Äpfeln zu stillen. Wie waren wir aber erstaunt, als ich die Uhr zog und wir die Feststellung machen mußten, daß es bereits 2Uhr nachmittags war. Nahezu 12 Stunden waren wir also schon unterwegs. Um ½3 Uhr früh hatten wir die Schaubachhütte verlassen.

  Weiter weiter! drängte eine Stimme in uns sonst steht uns noch eine Beiwacht in völlig durch-näßten Kleidern bevor. Uns graute schon beim Gedanken an so etwas. Das Eis hatte nun an manchen Stellen seine harte Beschaffenheit geändert. So gelangten wir teilweise rascher höher. Der Vorangehende stieg stapfend, bald stufenschlagend eine Seillänge empor, schlug dann einen Eishaken, sodaß der zweite flott nachgehen konnte. Hermann konnte seine Begeisterung über die Eishaken nicht oftgenug bekunden; für ihn waren dieselben nämlich etwas Neues. Es folgte wieder Blankeis, Stufe reihte sich an Stufe. Die Hand, die den Pickel umfaßt hielt, begann zu schmerzen. Vorwärts! Weiter! Das Eis war hier besonders gut, die Haken saßen immer bis zum Ring im Eis und boten so die bestmöglichste Sicherung. Wie aber sahen sie nachher aus, verdreht und verbogen nach allen Richtungen. Ein Versuch, die so verunstalteten Haken auf dem Eis wieder geradezuklopfen, endete kläglich.

  Über uns hing die riesige Gipfelwächte herab. Drohend, wie ein Wächter, schien sie uns den Aufstieg zum Gipfel zu verwehren. Wir sagten uns, darüber hinwegzukommen ist unmöglich, sie muß nach links umgangen werden. Um 7 Uhr abends standen wir knapp unter der Wächte. Es begann bereits zu dunkeln. Hermann, der vor Kälte und Nässe kein Gefühlmehr in den Füßen hatte, überließ mir die weitere Führung. Um möglichst rasch vorwärts zu kommen, schlug ich die Stufen so weit als möglich voneinander entfernt. Ich schlug Kerbe um Kerbe, bald mit der linken, dann wieder mit der rechten Hand. Der Arm, die Finger schmerzten, schlaff hing der Pickel im Gelenk. Ich mußte einen Haken schlagen und kurze Zeit rasten. Hermann stieg nach. Um uns herrschte bereits völlige Dunkelheit. Es war ein unsicheres Tasten nach Tritten; drei, vier Hiebe und mit einigen Zacken fand der eisenbewehrte Fuß Halt. Man konnte die Stufen mehr ahnen als fühlen. Weit kann es ja bis zum erlösenden Grat nicht mehr sein, vielleicht 40 Meter noch, sagte ich. Mit dieser Schätzung hatte ich mich jedoch gewaltig geirrt. Denn es war nur eine Eisrippe, die ich in der Dunkelheit für den Grat gehalten hatte. Eintönig fast stumpfsinnig wurde die ewige Stufenarbeit. Einmal wird er wohl kommen müssen, der Grat, bemerkte ich in tröstendem Selbstgespräch. Aus den 40 Metern wurden 150 Meter. Endlich hob sich der ersehnte Grat vom sternenbesäten Himmel ab. Bald standen wir auf seiner Schneide und schüttelten uns die Hände.

Den Gipfel zu so später Stunde – es war bereits 9 Uhr abends – noch zu betreten, ersparten wir uns. Wir waren heillos froh, endlich aus dieser Wand herausgekommen zu sein und freuten uns schon auf einen heißen Tee. Darum eilten wir den Grat abwärts. Bald stießen wir auf einen alten Kriegsunterstand, in dessen Holzgrube wir allerdings nur in zusammengekauerter Haltung Platz fanden. Alsbald surrte der Kocher und wir ließen uns den Tee und die aufgewärmten Schnitzel bei Kerzenschein gut schmecken.

Als das letzte Kerzenstümpflein verlöscht war, tappten wir in der Dunkelheit, immer noch mit den Zehnzackern an den Füßen, über harten Firn und plattigen Fels abwärts. Jetzt erst erkannten wir den Vorteil, dass wir die Königsspitze einige Tage früher über den Normalweg bereits besucht hatten. Um ½3 Uhr früh, also genau 24 Stunden seit unserem Aufbruch langten wir wieder bei der Schaubachhütte ein.

Nach langem, wohltuendem Schlaf rollten wir uns wieder aus den Decken heraus und traten, mit einem Fernglas bewaffnet, vor die Hütte. Noch einmal verfolgten wir unseren Weg von gestern und unsere Gedanken kreisten zurück in die Vergangenheit, als Hans Ertl und Hans Brehm am 5. September 1930nach elfstündigem harten Kampf die Wand erobert hatten.

Noch müde und abgekämpft stiegen wir nach Sulden ab; doch Freude lag im Herzen über unseren Sieg und über unser Glück.

Paul Ashenbrenner

Originaltext aus dem Karwendler Jahresbericht von 1934 und 1935