Zweite Durchkletterung der großen Zinnen-Nordwand 1933

Am 10. September, kaum ein Monat nach der Erstbezwingung, befanden wir uns auf der Prinz Umberto-Hütte: Zwei Freunde, Dr. Much Widschwendtner und Toni Haberl, die uns die Tur so weit als möglich erleichtern wollten, mein Bruder Paul und ich. An diesem Tag herschte noch schlechtes Wetter, das Einsteigen in die Nordwand war unmöglich. Der Morgen des 11. September versprach gutes Wetter. Er brach in zauberischer Schönheit an. Am Paternkofel leuchteten schon die ersten Sonnenstrahlen. Schwer bewaffnet für das Kommende stiegen wir unter den noch düsteren Nordflanken der Drei Zinnen dahin. Die ungeheuere Wucht und der senkrechte, oft überhängende Abfall unseres Zieles, wirkte überwältigend.
Rechts der großen, gelben und überhängenden Felszone war ein Sockel, über diesen klettern wir noch ohne Seil zum eigentlichen Einstieg. Um 8 Uhr früh stand mein zwanzigjähriger Bruder und ich, behangen mit zwanzig Karabinern, 18 Haken, zwei Seilen mit je 32 Meter und 30 Meter Reepschnur bereit. Und nun begannen die ersten Schwierigkeiten.
Paul packt an, es war eine Freude ihm zuzusehen; er meisterte die Sache glänzend. Nach etlichen Metern schnappt schon der erste Karabiner im den Haken. Ein äußerst schwieriger Quergang führt in die vollkommen glatt auftretende Wand hinaus. Hat der erste das Seil ausgegangen, dann läuft es durchschnittlich durch 10 bis 14 Karabiner. Damit keiner zu kurz komme, tauschen wir jede Seillänge im Vortritt. Übrigens hat gerade bei solch schwieriger Felsfahrt der zweite noch bedeutend mehr Anstrengungen auf sich zu nehmen, als der erste.
Die ersten 300 Meter sind im allgemeinen vollkommen senkrecht; noch dazu hängt die Wand oft so über, dass der kleinste Zug von oben den zweiten aus der Wand reist und ihn in der Luft baumeln lässt. Als wir hundert Meter hinter uns gebracht hatten, war es schon 2 Uhr nachmittag; wo die Zeit hingekommen ist, das weis der Himmel. Die folgenden hundert Meter waren etwas leichter, was man so unter „leicht“ in dieser Wand versteht. Es traten einige Risse und bessergriffige Stellen auf, dafür sind meines Erachtens diese hundert Meter die gefährlichsten, da zu der ungeheuren Steilheit noch starke Brüchigkeit kommt.
Um 7.30 Uhr abends erreichen wir einen der besten Standplätze des ganzen, etwa 300 Meter hohen, schwersten Teiles der Wand. Wir erwählten ihn sofort als Beiwachplatz; bis hierher kamen die Italiener in zwei Tagen. Ein Gefühl aus Freude und Stolz beseelte uns und wir fanden noch Zeit, das letzte Licht des sterbenden Tages mit Aufmerksamkeit zu betrachten. Ganz aufrichtig gesagt, war es eine meiner schönsten Beiwachten, allerdings nicht gerade die bequemste. Unsere beiden besorgten Freunde kamen nochmals zum Einstieg, um uns herzlich gute Nacht zu wünschen und das hat uns ungemein gefreut. Wir fühlten uns wie geborgen. Die Nacht verlief sehr gut, wir schliefen sogar sechs bis sieben Stunden. Paul, der ganz ausgiebig geschnarcht hat, war unglaublich begeistert von seinem ersten Biwak. Der Morgen war kühl, Dolomitenzauber hatten wir nicht zu erwarten, Nebel leckte von den Tälern herauf, der Himmel war grau. In solchem Fall heißt es: heraus aus den schweren Stellen, sonst geht’s schief. Die nun folgenden zwei Seillängen, 60 bis 70 Meter sind das Schwerste des ganzen Aufstieges; sie kosteten uns trotz schnellen Gehens fünf Stunden. Um diese Zeit fing es schon leicht zu regnen an. Nach einer weiteren Seillänge hatten wir die grimmigsten Stellen hinter uns; es war 1.30 Uhr geworden. Ein Gefühl der Erleichterung zieht ein, wenn man so ungefähr 30 bis 40 Meter ohne Haken hinausturnen kann. Freilich dauerte es nicht lange, dann geht’s wieder Seillänge um Seillänge über senkrechten Fels empor. Riß, Ueberhang und wieder Riß usw. Unsere Finger waren schon ausgelaugt vor Nässe und Kälte. Die Wand will schier kein Ende nehmen. Im Galgenhumor singen und pfeifen wir: „Nur immer lustig empor zum befreienden Licht“, wie es so oft heißt. Uns war das Gegenteil beschert; wir kamen ins Dunkel. Der Ausstieg zum Gipfel war zudem noch sehr brüchig. Der erste löste unheimlichen Steinschlag aus, dem ich, der ich gerade zweiter war, mit knapper Not entgehen konnte; beide Seile waren durchgeschlagen. Aber gleich nach diesem Ereignis standen wir auf dem Gipfel der großen Zinne. Wir haben uns in übermenschlicher Freude die Hände gedrückt und spürten es kaum, wie der eiskalte Wind durch die durchnäßten Kleider bis auf die Knochen brannte. Der Berg war erstiegen. Nicht der ärgste Sturm konnte uns den Sieg noch streitig machen.
Bis 11 Uhr nachts suchten wir vergeblich nach dem richtigen Abstieg. Alt Kriegssteige haben uns genarrt und so wurden wir zur zweiten beiwacht gezwungen. Diese Nacht war lang, aber auch schier unerträgliche Stunden gehen zu Ende. Leichtes Dunkel liegt noch in den Tälern. Bald siegt das Licht, der neue Tag bricht an und bald stehen wir wieder unten im Kar; die beiden Freunde drücken uns mit innigem Glückwunsch die Hand.
Vor der Hütte trat uns mit aufrichtiger Freude im Gesicht der eine Dimai, der Erstersteiger, entgegen, der eigens von Cortina heraufgekommen war, um uns zu beglückwünschen. Es freute uns; das war sportliches Denken.
48 Stunden stakten wir in den Felsen der Großen Zinne, 22 davon entfielen auf die reine Kletterzeit. Es war meine schwierigste Bergtur.

Peter Aschenbrenner
Originaltext aus dem Karwendler Jahresbericht von 1932 und 1933

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