Velebit 1988

Schon vor Jahren habe ich von einem Klettergebiet in Jugoslawien gehört, das in der Nähe der Adriaküste gelegen sein soll. Da wir seit Jahren unseren Familienurlaub immer etwas südlich von Rijeka verbringen, war es schon lange mein Wunsch, dieses Gebiet einmal kennen zu lernen. Vom Heeressportverein Absam wurde heuer eine Fahrt dorthin ausgeschrieben und da Egger Wolfi und ich Mitglieder des Vereines sind, schließen wir uns der Gruppe an.
Am Dienstag, dem 24. Mai, fahren wir um 18 Uhr mit einem Bus vom Lager Walchen los. Ein großer Teil der Verpflegung, Kochzelt, Tische, Bänke und Ausrüstung wurden verladen. Über Brenner und Verona geht’s nach Triest zur jugoslawischen Grenze, weiter nach Rijeka und die endlose Küstenstraße entlang nach Starigrad-Paklenica, wo wir am Vormittag um 9 Uhr eintreffen. Nachdem wir unser Zelt aufgestellt haben, fahren Egger Wolfi und ich gleich in die Paklenicaschlucht. Unsere Begleiter sind Wolfgang Kapferer und Peter Kühr, beide Bekannte von Wolfi. Da wir nun zwei Namensvettern haben, heißt Egger Wolfi ab jetzt wegen seiner enormen Kräfte „Tarzan“.
Der einzige deutschsprachige Kletterführer von Froidl gleicht einem Märchenbuch und so haben wir in den ersten Tagen Orientierungsprobleme. Am Nuglo Kuk sehen wir eine markante Verschneidung, die wollen wir zum Eingehen versuchen. Über extrem rauhe Muschelkalkplatten, Verschneidungen und Risse geht es mehrere Seillängen aufwärts. Die im Führer angegebene Schwierigkeit III – IV ist leicht untertrieben (ca. VI-). Am Abend gibt es dann am Zeltplatz die Einstandsfeier. 60 Liter Rot- und Weißwein werden eingekauft, kein Tropfen bleibt übrig.
Am nächsten Tag wollen wir am Anica Kuk die 300 m hohe Velebitführe versuchen. Ich steige mit Wolfgang voraus, Tarzan und Peter folgen uns. In schöner, teilweise schwerer Kletterei kommen wir rasch vorwärts. Die Schlüsselstelle bildet ein heikler Quergang mit anschließendem, kräfteraubendem Überhang. Wolfgang, der nur selten klettert, saftelt sich total aus und kann sich in den folgenden Seillängen bei den größten Griffen kaum mehr halten. Kurz unter dem Ausstieg erwischt uns ein heftiges Gewitter, doch beim Abstieg scheint schon wieder die Sonne.
Tags darauf steigen Tarzan und ich in die Klinsroute am Anica Kuk ein. Nach einem sehr schweren Quergang folgen herrliche Kletterstellen über Piazschuppen, Verschneidungen und Wandstellen. In Wandmitte verleitet uns der Kletterführer in einen überhängenden Verhauer. Doch anschließend werden wir durch wahre Genußkletterei entschädigt. Nach einem Dachquergang und darüber folgender Piazschuppe erwischt uns wieder ein Gewitter. Trotz schützendem Dachüberhang stehe ich bald in einer Brause; Tarzan, eine Seillänge tiefer, gehts’s noch schlechter. Nach einer halben Stunde können wir die restlichen drei Seillängen weiterklettern.
Die nächsten Tage verbringen wir mit klettern, schwimmen, der Suche nach anderen Campingplätzen und vor allem den Besuch von Gaststätten. Am sogenannten Elefantenbauch, dem nordwestlichen Ausläufer der Anika-Kuk-Nordwand, wollen wir zu zweit den „kleinen Hammer“, ein zirka ein Meter ausladendes Dach, versuchen.Trotz Tapeverband gelingt es mir nicht, mich an den furchtbar abgeschmierten kleinen Griffen zu halten. Nachdem ich den Standplatz mit Hakenhilfe erreiche, versucht Tarzan das Dach im Nachstieg. Doch auch für ihn sind die Griffe zu speckig. Wir seilen uns wieder zum Einstieg hinunter, um mit Wolfgang und Peter eine leichtere Tour zu machen.
Da ruft uns jemand zum wir sollen schnell kommen, es ist wer abgestürzt. Wir nehmen unsere Klettersachen und gehen um den Elefantenbauch herum nach links zur Anica-Kuk-Nordwand. Wir sehen ungefähr dreißig Meter über dem Einstieg einen leblosen Kletterer hängen. Man sieht schon von weitem, daß er durch Seile stranguliert sein muß. Als wir zum Wandfuß kommen, sehen wir 15 Meter über dem Boden einen zweiten Kletterer frei in der Luft baumeln. Er hängt am Hüftgurt mit Kopf und Beinen nach unten und sieht fürchterlich aus. Ab und zu röchelt er und wir wissen, daß wir ihn sofort bergen müssen. Tarzan, der nicht nur sehr viel Kraft, sonder auch gute Nerven hat, klettert sofort zu ihm hinauf. Einige Meter rechts vom Abgestürzten wächst ein kleiner Baum aus einem Felsloch heraus. An diesem sichert sich Tarzan und ich lasse ihn mit Seilzug zum Verunglückten hinüber. Er bindet ihn am Brustgurt an und ich ziehe beide wieder zum Bäumchen herüber. Dann versucht Tarzan ihn in aufrechte Lage zu bringen. Dies gelingt ihm auch und ich lasse ihn dann mit dem Schwerverletzten langsam zum Wandfuß herab. Der Abgestürzte sieht grauenhaft aus, sein ganzes Gesicht ist durch de Sturz verstümmelt. Er wird von mehreren Helfern in einen Biwaksack gelegt und zum Parkplatz der Paklenicaschlucht getragen. Mittlerweile sind viele Helfer gekommen, manche habe sich aus benachbarten Routen abgeseilt.
Was war passiert? – Zwei Bayern, ein junger Mann und ein Mädchen, waren in die Brahmsroute eingestiegen. Den beiden folgten drei Kletterer aus Kössen. In der zweiten Seillänge muß der Deutsche zu weit nach links geklettert sein und macht bei einem alten Haken Stand. Die Nachfolgenden machten auch dort Stand und sicherten sich zusätzlich an einem Strauch. Der vorauskletternde Deutsche stieg zirka 40 m ohne Zwischensicherung aufwärts; er kletterte nur in Turnschuhen. Plötzlich muß er ausgerutscht und direkt auf die am Standplatz Wartenden gestürzt sein. Dabei riß er vermutlich zuerst einen mit und die beiden Stürzenden rissen dann in der Folge auch noch die anderen drei mit. Diese drei fielen gemeinsam in einen großen Strauch und blieben darin übereinander liegen. Die vier Seile verfingen sich in den Sträuchern und auf Feldszacken. Ein Kössener, den wir als ersten hängen sahen muß dabei von den Seilen stranguliert worden sein. Eine folgende Seilschaft aus Menschen, ein Bergrettungsmann mit seiner Freundin, sahen den Absturz. Der junge Mann stieg sofort zu den drei Schwerverletzten, schlug mehrere Haken und sicherte sie so vor einem weiteren Absturz. Mittlerweile kamen etliche Kletterer und jugoslawischer Arzt zur Unfallstelle. Tarzan, von seiner Metzgerarbeit vermutlich weniger geschockt als ich vom Zuschauen, steigt zur Absturzstelle auf, um dort zu helfen. Sträucher werden abgebrochen; mit den Stangen und Kletterseilen bauen wir mehrere Tragbahren. Die Schwerverletzten, die alle möglichen Knochenbrüche, Wirbelfrakturen und Fleischwunden erlitten haben, werden vom Arzt versorgt, mit Ästen von Sträuchern geschient und nach und nach zum Wandfuß herabgelassen. Als letzte Überlebende des Absturzes wird das Mädchen herabgeseilt. Ich helfe beim Abtransport zum Parkplatz. Sie hat furchtbare Schmerzen, mehrere Brüche und wie sich später herausstellt, drei Wirbelfrakturen. Die beiden Kössener waren die ganze Zeit auf ihr gelegen und sie konnte erst nach eineinhalb bis zwei Stunden geborgen werden. Die Verletzten werden zuerst mit Pkw, später mit Rettungswagen in’s Krankenhaus Zadar gebracht. Ich warte auf Tarzan, der bis zur Bergung des Toten aushält. Er hat Großartiges geleistet.
Am nächsten Tag ist es ausnahmsweise ruhig im Klettergebiet, allen ist der schwere Unfall unter die Haut gegangen. Wir liegen den ganzen Tag am Strand und schwimmen zwischendurch einige Tempo im frischen Wasser. Für größere Touren fehlt uns jetzt der Biß, wir gehen die letzten beiden Tage nur mehr in die Schlucht zum Sportklettern.
Am Freitag, dem 3. Juni, fahren wir gleich nach dem Frühstück Richtung Heimat. In Postojna besuchen wir noch die Adelsberger Grotte. Abgesehen vom Rummel sind wir von den unterirdischen Figuren aus verschiedenfarbigem Gestein begeistert.
Anschließend geht es weiter zum Loiblpaß. In Kärnten in der Nähe von Ferlach beziehen wir nochmals Nachtquartier. Am nächsten Morgen geht’s über Spittal nach Lienz; für einige „Einkehrschwünge“ hat die Reiseleitung noch genügend Geld. Über den Felbertauern und Paß Thurn erreichen wir Kitzbühel und am späten Nachmittag landen wir gesund in Walchen.
Klaus Brentel