Pamir 1967

Kaum seßhaft geworden in Innsbruck und bei den Karwendlern, erhielt ich vom Klub die Möglichkeit, an der österr. Pamirfahrt 1967 teilzunehmen. Ein so spontaner Vertrauensbeweis meiner neuen Berggefährten war fast mehr als ich erwarten durfte – ein Traum, der ganz unerwartet in Erfüllung gehen sollte.
Vom Klub war noch mein langjähriger Freund und Westalpenpartner Rolf Walter mit von der Partie; weiters Bergsteiger von drei alpinen Vereinen Österreichs, zusammen 14 Mann.
Großes Treffen gab es in Wien. Bundespräsident Jonas wurden wir noch vorgestellt, er hatte freundlicherweise den Ehrenschutz des Unternehmens übernommen; dann ging es per Flugzeug ab nach Osch.
Zwischenlandung und 3 Tage Aufenthalt in Moskau gaben uns Gelegenheit, ein wenig Einblick in eine andere Weltanschauung zu erhalten. Großes vergangener Zeiten und russische Gegenwart beeindruckten uns. Ein Höhepunkt war eine Ballettvorführung im neuen Kreml-Kongreßhaus.
In Osch nahmen wir mit Freuden von der zivilisierten Welt Abschied. Mit Bus und Lastwagen fuhren wir auf immer schlechter werdenden Wegen 2 Tage lang in das Kirgisische Hochland hinein. Wir durchfuhren an einer Furt den Schmelzwasser führenden Kozyl Su; das Wasser reichte weit über die Achsen der Räder, und die aus den Fluten ragenden Wracks betrachteten wir mit gemischten Gefühlen. Nun führte die Straße steil hinan, wir überquerten den 4000 m hohen Taldykpaß im Alaigebirge, dann lag der Trans-Alai mit unserem Ziel, dem 7134 m hohen Pic Lenin, vor uns.
Unser Klubkamerad Erwin Schneider hatte bereits 1928 anläßlich einer 4monatigen Vermessungsexpedition zusammen mit Allwein und Wien diesen Berg erstbestiegen. Eine großartige Leistung, so großartig, daß sie in russischen Bergsteigerkreisen viele Jahre lang bezweifelt wurde.
18 km vor dem eigentlichen Bergfuß beziehen wir in 3700 m Höhe das Hauptlager. Unsere Mannschaft teilt sich in Gruppen und die ersten Akklimatisations- und Erkundungstouren beginnen.
Rolf, Adi, Hans und ich beschließen, den knapp 5000 m hohen linken Talwächter, von uns „Scharfe Schneide“ getauft, zu ersteigen. Am Nachmittag geht es los. 10 Minuten nach dem Lager stellt sich uns schon das erste Problem entgegen: der Azuktosch, ein reißender Gebirgsbach, ein bis zwei Meter tief, und wie wir später feststellen können, genau eine Seillänge breit. Das Wasser tost, und das dumpfe Poltern kommt von den großen Steinbrocken, die am Grunde mitrollen. Obenauf schwimmen noch Eisbrocken. Ohne Diskussion erkennen wir Rolf, wohl seiner Tätigkeit als Sportlehrer zufolge, als unseren zukünftigen Schwimmlehrer an. Wir spähen nach einer schwachen Stelle und gehen dabei am Ufer aufwärts. Als der Fluß einen Bogen macht und uns in eine ganz falsche Richtung drängt, wird es kritisch. Rolf packt das Seil aus und die Kleider ein. Welch grotesker Anblick, wie er da, splitternackt und angeseilt, sich auf die Schistöcke stützend, den Kampf mit der Naturgewalt aufnimmt! Mit Mühe erreicht er das andere Ufer. Wir seilen die Rucksäcke hinüber; Hans und ich folgen problemlos am gespannten Seil. Letzter ist Adi! Ein Stück geht alles gut. Wie in einer Wand sichern wir ihn. Doch plötzlich reißt es ihm die Haxen aus, und er muß sich zum Vollbad entschließen. Fast noch in derselben Sekunde wirft ihn die starke Strömung durch das gespannte Seil an unser Ufer. Ein paar blaue Flecken waren die Folge, sonst war die Vorstellung bestens gelungen! Mißlicher waren die Folgen für Rolf. Er nahm sich während des ganzen Manövers keine Zeit, etwas anzuziehen, erkältete sich und bekam eine leichte Lungenentzündung. Er wurde per Hubschrauber für 10 Tage in das nächste Krankenhaus gebracht und „übersprang“ somit die Akklimatisationsphase.
Wir machten uns inzwischen daran, die Hochlager aufzubauen und einzurichten. Ein Depot erstellten wir am eigentlichen Beginn unseres geplanten Anstieges; Lager I am Fuße der 1400 m hohen, ca. 40 Grad steilen Nordflanke, die zum Grylenkopaß führt. Hier entstand später Lager II, 5600 m hoch gelegen. Ein wunderschöner Platz, den 1928 auch Erwin Schneider, von Süden her kommend, als Ausgangspunkt für die Besteigung hatte.
Bis die benötigte Ausrüstung hier heroben war, hatten wir diese Strecke ein paar Mal zu bewältigen.
Vom Grylenkopaß aus erstiegen wir noch den 6100 m hohen Pic Spartak.
Dann wurde gruppenweise für den Gipfelgang gepackt. Über den Ostgrat ging es bei herrlichem Wetter höher. Tief unten lag nun das 40 km breite Alaital, und die Gipfel der jenseitigen Alaikette trugen, wie einen Heiligenschein, Schönwetterwolken. Am späten Nachmittag stellten wir am Sattel, unter dem letzten Gipfelaufschwung, die Zelte auf. Wir waren fast 7000 m hoch, und die untergehende Sonne machte aus den glitzernden Firnflanken und den bereits im Schatten liegenden Tälern ein Märchenland. Wir waren unserem Ziel ganz nahe und krochen in die Schlafsäcke.
Nachts knatterten die Zeltwände im Sturm, und meine Gedanken kamen kaum zur Ruhe. So vieles hatte ich die letzten Tage und Wochen erlebt, und es war herrlich, im Halbschlaf dahinzuträumen.
Am nächsten Morgen nahmen wir die verbliebenen 200 Meter in Angriff. Der letzte Steilhang begann sich zurückzulegen, dahinter kamen noch neue Gipfel hervor. Doch bald standen wir an dem Punkt, wo es ringsum nur abwärts ging: am Gipfel des 7134 m hohen Pic Lenin, auf unserem Ziel. Heil Franz! Heil Adi!
Einen ganzen Tag und eine Nacht blieben wir dann noch in unserem luftigen Lager unter dem Gipfel. Als wir uns zum Abstieg anschickten, kam plötzlich auch noch Rolf daher. Man hatte ihn aus dem Krankenhaus entlassen, und er stellt gleich seine neu gewonnene Gesundheit unter Beweis: Ohne Akklimatisation stieg er in drei Tagen vom Hauptlager zum Gipfel und wieder zurück bis zum Grylenkopaß! Und da er bis zum Paß noch eine 5-kg-Dose besten bulgarischen Schinken mitgenommen hatte, begann es nun hier in der Bratpfanne auf Hochtouren zu brutzeln.
Helmut Wagner