Nordwand der Dent d’ Herens, 1938

Es war in den letzten Wochen vor Ausbruch des großen Krieges. Mit Wastl Mariner und Kuno Rainer war ich nach Zermatt gekommen. Unsere Ziele waren die großen Wege zu den Gipfeln der Bergriesen um Zermatt. Mit der Nordwand des Lyskammes hatten wir den Reigen unserer Fahrten eingeleitet. Schlechtwetter vereitelte unsere weiteren Pläne im Gebiete der Betempshütte und trieb uns ins Tal. Mit neuen Plänen verließen wir bei Besserung des Wetters Zermatt und stiegen durch das Zmuttal bergwärts der Schönbühelhütte entgegen.

Ein herrlicher Hochsommerabend breitet sich über die Landschaft, der Sonne rosiges Licht strömt in verschwenderischer Fülle über die Riesenflanken und Grate der Berge und verleiht ihnen trotz Größe und Ernst eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft. Wir sitzen unweit der Hütte, uns gegenüber steht die Wand, für die wir ausgezogen sind: Die Nordwand der Dent d’ Herens. Eifrig studieren wir den Weg, den wir morgen gehen wollen, jenen Weg, den Welzenbach/Allwein 1926 eröffnet hatten. Damals und viele Jahre hindurch galt diese Bergfahrt als eine der größten der Alpen. Es waren bisher nur wenige Seilschaften diesen Spuren gefolgt. Seit Jahren stand diese herrliche Wand auch auf meinem Wunschzettel – und nun sollte es Erfüllung werden.

Um 1 Uhr früh verlassen wir die Hütte. Ein sternbesäter Himmel wölbt sich über uns, strahlendes Mondlicht liegt über den starren Bergkolossen und läßt unseren Weg deutlich erkennen. Weit im Osten geht ein Gewitter nieder, das Leuchten der Blitze wirft seinen Schein bis zu uns herüber und überhellt das Licht des Mondes. Sternschnuppen rasen in kurzen Zeitabständen aus allen Richtungen durch den Weltenraum. Und eine ergreifende Ruhe liegt über der erstarrten Hochgebirgswelt, die nur durch das Aufklirren unserer stahlbeschlagenen Schuhe unterbrochen wird. Schweigend schreiten wir in großen Abständen über die beinharte Firnfläche des Tiefenmattengletschers unserer Wand entgegen. Über einem steilen Lawinenkegel erreichen wir den Bergschrund, welcher sich über eine ausgeprägte Firnrippe gut überwinden läßt. Jetzt können wir unseren Weg in seiner ganzen Größe übersehen. 1300 Meter strebt die Wand über uns empor zum Gipfel. Ein von Firn durchsetzter riesiger Felssporn leitet hinauf zum Beginn des in mehreren Stufen abbrechenden Seracwalls, der die größten und stets veränderten Schwierigkeiten der Wand aufweist. Die über der Fingsterrasse ansetzende 400 Meter hohe, plattige Granitwand zeigt sich als geschlossene Firnflanke. Das zarte Streiflicht des Mondes liegt über diesem großen Weg und läßt ihn noch größer und erhabener erscheinen, als er in Wirklichkeit ist. Und wir trippeln als kaum sichtbare kleine Punkte den steilen Firn empor – längst im Bann der Großartigkeit unserer Umgebung. Gespenstisch huschen unsere Schatten über Fels und Firn. Höher oben teilen sich unsere Wege, und jeder sucht sein Heil nach seinem Geschmack.

Langsam verblaßt das Licht des Mondes und weicht dem eines jungen Tages. Wir sitzen auf einer kleinen Firnkuppe, entnehmen dem Rucksack Seil und Steigeisen, bereiten uns innerlich und äußerlich auf die Hautschwierigkeiten der Wand vor. Der aufgehenden Sonne erstes Feuer liegt über den großen Bergen, und bald sind auch wir vom rosigen Licht erfaßt. Die wohltuende Wärme dürfen wir nur kurz als glücklich preisen, denn schon geht ein ungemütliches Knirschen durch die einem mächtigen Trümmerhaufen gleichenden Eistürme über uns. Noch ehe wir in die die erste Eisbarriere durchziehende Rinne steigen wollen, neigt sich ein über uns bereits müde gewordener Turm und rast in Form einer Eislawine an uns vorbei. Der Sonne Kraft hat die eisigen Fesseln der Nacht gelöst – wir haben den Ernst der Lage erkannt. Mit gemischten Gefühlen treten wir diesen gefährlichen Gang an. Unmittelbar unter drohenden Seracs geht es vorbei, schräg links ansteigend über blankes Eis, aus dem abgeschlagene Felsbrocken hervorragen. Einige Seillängen hasten wir durch dieses Rinnensystem, von mehreren Stufen unterbrochen, hinauf, oftmals die notwendige Sicherung außer Acht lassend. Ein schmales Band läßt uns endlich und erstmals aus dieser Lawinengasse entkommen. In weiterer Folge überwinden wir senkrechte Eisstufen, zwingen uns durch Spalten und Risse und stehen dann plötzlich auf einer breiten Terrasse, am Fuße einer allseits senkrechten, von weit ausladender Wächte gekrönten, etwa 35 Meter hohen Eiswand. Ein Ausweichen nach links oder rechts wäre kaum oder nur unter höchster Gefahr möglich. So entscheiden wir uns für die Eiswand selbst. Eine etwa vier Meter von der eigentlichen Wand abgelöste, bedrohlich hinaushängende Kulisse scheint die einzige Möglichkeit zu bilden. Die Überwindung dieser fast senkrechten Eiskante forderte viel Zeit und Kraft. Vom schmalen Dach der Kulisse übersetzen wir auf höchst fraglichen Brücken die Kluft, die uns von der Fingsterrasse trennt. Um 9 Uhr vormittags haben wir die große Terrasse betreten und freuen uns, daß die Hauptschwierigkeiten des Weges überwunden sind. Voll Zuversicht, diese Fahrt in einigen wenigen Stunden beendet zu haben, greifen wir die Gipfelwand in der Fallinie an. Doch darin sollten wir uns getäuscht haben.

Oberhalb des Bergschrundes folgen zwei Seillängen prächtigster Arbeit im blanken Eis. Schlagartig aber treffen wir völlig veränderte und äußerst schlechte Verhältnisse an. Die Felsen sind von teilweise metertiefem, haltlosem, körnigem Schnee bedeckt und machen ein Ausweichen zum Grat unmöglich. Mit einem Schlag wird das Wetter schlecht, wir stecken in undurchsichtigem Nebel, und lustig wirbeln die Flocken um uns. Es folgt ein nicht endenwollender, gefahrvoller Gang. In der ständigen unangenehmen Erwartung, daß die ganze Flanke mit uns zur Tiefe braust, wühlen wir einen tiefen Graben durch die 60 Grad geneigte Flanke. Der jeweils Führende ist bald ausgepumpt, denn jeder Meter ist eine elende Rauferei. Es ist meist so, daß die Schneedecke in Brusthöhe steht, der angetretene Schnee rauschend wegfließt und man zitternd mit den Vorderzinken der Zwölfzacker auf glasiertem Fels steht. Dabei ist jede Sicherung so gut wie aussichtslos. Kameradschaftlich teilen wir die schwere Arbeit und erreichen nach sieben Stunden den sturmumbrausten Gipfel der Dent d’ Herens, 4400 Meter hoch.

Den Wunsch nach der wohlverdienten Gipfelrast bläst uns der kalte Weststurm weg, doch die Freude über das Bezwingen dieser Riesenmauer kennt keine Grenzen; in tollem Übermut hüpfen wir in langen Sätzen die Westnordwestflanke hinunter. Ein steiler Eishang zwischen gähnenden Gletscherbrüchen kostet noch eine lange und vorsichtige Arbeit, und als wir den Schrund erreichen, müssen wir feststellen, daß seine Überwindung der ganzen Länge nach unmöglich ist. Doch die Vierzigmerterseile bringen uns in luftiger Fahrt hinunter zum Tiefenmattengletscher. Regen und Schnee, Blitz und Donner begleiten uns hinaus durch den aufgeweichten Firn; wir empfinden es als den passenden Ausklang dieses erlebnisreichen Tages.

Paul Aschenbrenner