Karwendler Westalpenfahrt 1937

Lange noch werde ich an jenen Klubabend zurückdenken, an dem unsere gemeinsame Auslandsbergfahrt endgültig beschlossen wurde. Ich durfte mit meinen Klubbrüdern einen Bergsommer verbringen und mit ihnen jenen Wunschtraum verwirklichen, der mich schon jahrelang im Banne hielt, den ich mir schon vor Jahren als mein Endziel gesetzt hatte: „Nordwände in den Berner Alpen“. Jene Wege sollten es sein, die Willi Welzenbach vor wenigen Jahren eröffnet und die ihm Krönung seiner alpinen Tätigkeit waren. Dieses große Ziel mit meinen Klubbrüdern in die Tat umzusetzen, erschien mir als eine doppelt schöne Aufgabe.

Dr. Karl Deutelmoser, Paul Aschenbrenner, Hans Frenademetz, Hermann Bischofer, Erich Falschlunger und ich waren die Glücklichen, welche an der durch Opferwilligkeit und Gemeinschaftssinn aller Klubbrüder geschaffenen Westalpenfahrt teilnehmen durften. Peinlichste Vorbereitung in der Ausrüstung und der Aufstellung eines genauen Fahrtenplanes beanspruchten viel Zeit, doch sie wurden zum schönen Vorerlebnis für die kommenden großen Tage.

Am 9. Juli um 7 Uhr abends verabschieden wir uns von den Klubbrüdern und fahren westwärts. Leider haben wir teilweise Regen, der uns die schöne Landschaft im eintönigen Grau zeigt. In uns allen aber herrscht sonniger Humor, der sich durch nichts verscheuchen lässt. Bei strömendem Regen erreichen wir von Interlaken durch das Lauterbrunnental Stechelberg, welches der Ausgangspunkt für sämtliche Fahrten werden soll.

Mit einem kräftigen Händedruck danken wir unsere beiden Kameraden, die uns mit ihren Wagen hieher gebracht haben.

11. Juli: Bei leichtem Regen steigen wir schwer bepackt bergwärts. Für das wegsame Gelände, ungefähr die Hälfte des Aufstieges, mieten wir ein Maultier, das einen gewaltigen Teil unseres Gepäcks, zirka 100 Kilo, auf den Rücken nimmt. Am Spätnachmittag stehen unsere Zelte in einer bunt gefärbten Wiese unweit der leeren notdürftigen Hütte der Oberhornalp. Dieses bescheidene aber reizende Plätzchen soll uns als Ausgangspunkt dienen für die Ersteigungen der Tschingelhörner, des Breithorns, Großhorns und Mittaghorns. Den Nordwänden der eisigen Umrahmung des Lauterbrunnentales soll also unser erster Angriff gelten.

Es folgen zwei graue, kalte Regentage. Eng zusammengerückt hocken wir im Zelt und vertreiben die lange Wartezeit mit Gesellschaftsspielen oder mit Vorlesungen aus alten Zeitungen durch unseren „Expeditionsarzt“ Doktor Deute, wie wir Deutelmoser nennen.

Ab und zu läßt uns das Krachen der Lawinen aufhorchen und wenn wir dann für Minuten einzelne Gipfel mit ihren haltlosen Flanken aus dem brauenden Gewoge wachsen sehen, dann stehen wir wie gebannt und schauen mit banger Freude die Ziele unserer Wünsche.

Als wir am 14. Juli um 4 Uhr früh aus den Zelten spähen, wölbt sich stahlblauer Himmel über uns. Das Wetter hat uns genarrt. Rasch wird gepackt und gerüstet und um 6 Uhr früh verlassen wir das Lager. Wir beschließen, die Nordwände des Großen und Kleinen Tschingelhorns anzupacken, die wir noch unerstiegen wissen. Während Pauli, Karl und Erich in die Nordwestwand des Großen Tschingelhorns einsteigen, versuchen Hermann und ich die Nordwand des Kleinen. Nach fünf Stunden hartem Ringen stehen wir auf dem sonnigen Gipfel mit dem beglückenden Gefühl, einen neuen Weg geschaffen zu haben. Auch die Freunde haben das Ziel auf neuem Wege erreicht. Vom ersten Erfolg, vom Erleben dieses schönen Bergtages beseelt, erreichen wir beim Scheiden des Tages das Lager.

Der nächste Tag ist mit strahlender Sonne angebrochen. Wir steigen zu Tal, um Proviant zu holen. Auch Post von den Klubbrüdern wartet auf uns. Am Abend geht ein schweres Gewitter nieder, welches den Auftakt für einige Schlechtwettertage wird. Vier Tage vergehen nach dem strahlenden Tag an den Tschingelhörnern. Sie bringen Regen und Schnee und zermürben unsere Tatenlust. Dann kommt aber wieder schönes Wetter.

Um 1 Uhr früh des 18. Juli verlassen wir das Lager und streben unseren Zielen zu. Karl und Hermann haben sich die zweite Begehung der Mittagshorn Nordwand als Werk des heutigen Tages gesetzt. Pauli und ich wollen die 1250 Meter hohe Nordwand des Großhorns versuchen, Erich, der heute in schlechter Verfassung ist, will allein das Mutthorn ersteigen.

Mit dem Verblassen der letzten Sternlein beginnen wir die Stufenleiter zum Gipfel des Großhorns. Es wird ein hartes Ringen um jeden Meter dieses eisgepanzerten Weges und um acht Uhr abends, nach 18stündiger Arbeit, stehen wir auf der gleißenden Gipfelwächte, in der wir uns für die kommende Nacht eingraben.

Gegen Mittag des nächsten Tages sitzen wir mit Erich vor den Zelten und beschauen freudestrahlend unseren großen Weg. Erst am Abend, knapp vor Einbruch eines krachenden Gewitters, kommen die Freunde vom Mittaghorn aus dem Lötschental zurück.

Wieder stellen Schlechtwettertage unser Warten für das nächste große Ziel auf eine harte Probe. Immer, wenn wir zu früher Stunde vor den Zelten stehen, ziehen regenschwangere Wolken umher, in den Wänden krachen die Lawinen. Tagsüber aber ist dann oft wieder strahlender Sonnenschein.

24. Juli: Fahles Mondlicht begleitet uns bald nach Mitternacht hinauf zum Breithorngletscher. Karl und Hermann wollen über die Lauperroute das Westliche Großhorn ersteigen. Pauli, Erich und ich streben dem Breithorn zu, dessen Nordwand 1300 Meter über den flachen Gletscherboden emporragt. Den Gedanken, Welzenbachs Weg zu wiederholen, haben der andauernde Föhn und die stark vereisten Felsen schon längst verdrängt. Dafür aber wollen wir den Weg Chervet-Richardet, welcher die untere Wandhälfte, fast 700 Meter, im weiten Bogen nach links umgeht, verbessern, indem wir über den mächtigen, aus der Wand hervortretenden Felspfeiler direkt emporsteigend die obere Wandhälfte und damit die in Gipfelfallinie durchziehende Granitrippe erreichen. Diese Rippe benützten auch die Erstersteiger nach der Abzweigung von der Schmadrijochroute am Oberen Breithorngletscher.

Großes Erleben bringt uns dieser Weg; besonders der obere Teil, wo uns ein schweres Gewitter überrascht, wird eine ernste Angelegenheit. Um 4 Uhr nachmittags stehen wir auf dem sturmumbrausten Gipfel des Breithorns.

Am nächsten Tag verlassen uns Hermann und Erich, ihr Urlaub ist zu Ende. Dafür kommt unser Freund Hans Frenademetz, der uns für die nächsten vierzehn Tage begleiten will. Auch wir müssen diesen so lieb gewordenen Winkel verlassen, andere Ziele verlangen die Verlegung unseres Standplatzes. Mit schweren Lasten steigen wir nach Stechelberg ab.

Als nächstes Betätigungsfeld soll uns das Dreigestirn „Eiger-Mönch-Jungfrau“ gelten. Drei Wege von Lauper haben wir uns zur Aufgabe gestellt. Wir errichten unser Zelt auf Biglenalp, am Fuße dieser erhabenen Bergriesen. Fas drei Tage benötigen wir zu unserer Übersiedlung.

28. Juli um 2 Uhr früh verlassen wir das Zelt. Pauli und Karl bestürmen die Lauperroute der 1200 Meter hohen Nordwand des Mönchs. Hansl muß sich für die erste Bergfahrt ein wenig mäßigen, daher schließen wir uns zusammen und besteigen denselben Gipfel über den Guggi-Grat. Anschließend wollten wir die Überschreitung zum Eiger machen und über den Westgrat zum Lager absteigen. Doch den Hansl hat die Bergkrankheit ein wenig erwischt und so ziehen wir vor: Über die Mönchsjöcher – Berglihütte – Fischerfirn – Zösenberg – Grindelwald – Kleinscheidegg unser Lager zu erreiche, wo wir um Mitternacht eintreffen. Die Freunde kommen am nächsten Tag über den Guggi-Gletscher zum Lager.

Am nächsten Tag durchsteige ich mit Hansl die Eiger-Südwestwand, wo uns ein unangenehmer Schneesturm überrascht, der wiederum der Auftakt für einige Schlechtwettertage ist. Drei Tage bannen uns Regen und Schnee in das Zelt und begraben all unsere hochfliegenden Pläne. Da beschließen wir, unser Lager abermals zu verlegen, um im Falle eines kommenden Schönwetters die letzten Tage unseres Berner Aufenthaltes mit einem würdigen Abschluß beenden zu können.

Der 3. August ist mit strahlender Sonne angebrochen. Mit schweren Lasten steigen wir das steile Weglein hinauf zur 2700 Meter hoch gelegenen Rottalhütte, die uns als Ausgangspunkt dienen soll für die letzten zwei großen Wege. Die Nordwand des Gletscherhorns, ein Weg von Welzenbach, bisher einmal wiederholt, wollen Karl und Hansl durchsteigen. Pauli und ich beabsichtigen, der Ebnefluh-Westwand einen neuen Weg in Gipfellot abzuringen. Über die Möglichkeit eines geraden Weges sind wir uns bald im Klaren.

Um 2 Uhr früh verlassen wir die Hütte und streben unseren Zielen entgegen. Es ist wohl das erste Mal während der ganzen vier Wochen, daß Wetter und Eisverhältnisse so sind, wie man sie wünscht: Hartgefrorener Neuschnee bis zum großen Schrund, dann Blankeis, von feinen, teilweise nur Zentimeter tiefen, hartgefrorenen Schneestreifen durchzogen, die gerade genügen, die 53 Grad geneigte Eiswand mit den Vorderzinken der Zwölfzacker stufenlos zu begehen. Jedoch ziehen wir Hakensicherung nach jeder beendeten Seillänge vor. Die gute Verfassung der Wand und vielleicht nicht zuletzt unsere eigene bringen es mit sich, daß wir statt am Abend, wie wir vermutet hatten, schon um halb 11 Uhr vormittags am Gipfel stehen. Wir beschließen, unseren Weg mit der Gletscherhorn-Überschreitung fortzusetzen, wo wir ja unsere Freunde treffen können. Ein plötzlich auftretender Schneesturm zwingt uns zu einem unangenehmen Freilager am Lauitor.

Am nächsten Morgen streben wir bei strahlender Sonne dem Jungfraujoch zu. Gemeinsam überschreiten wir die Jungfrau und erreichen abends wieder unser Hüttlein im Rottal.

Zwei Tage später, am 7. August, kommen wieder die Klubbrüder und bringen uns mit ihren schnellen Wagen in die Heimat zurück.

Wenn ich nun den Gesamteindruck unserer Westalpenfahrt in ganz kurzen Zügen schildern sollte, so muß ich sagen, daß es für mich neben den bergsteigerischen Erfolgen die schönsten Bergtage waren, die ich je erleben durfte. Eine Fülle von Erlebnissen beseelt mich, wenn ich an die Tage denke, die mir Kampf und Sieg gebracht, die mich Bergkameradschaft und klubbrüderlichen Opfersinn im höchsten Maße erleben ließen.

Wastl Mariner