Durch die Nordwand des Schrammacher 2. Durchstieg am 8. 10. 1921

Weit, weit im Westen, hinter den fernen Ötztaler Bergen, ging golden die Sonne unter. Lange noch lag heller Schein auf den Gipfeln, die gewaltigen Firndome in Purpur hüllend, während sich vom herbstlich gefärbten Valsertale die Schatten immer weiter heraufschoben, um endlich auch uns mit kalten Armen zu umfangen. Da zogen wir still und ruhig weiter, unserem heutigen Ziele, der Geraerhütte zu. Nacht war es geworden, als sich kreischend die Türe der Hütte öffnete, uns müden Bergwanderern Schutz und Obdach gewährend. Gar bald verkündete heller Lichtschein aus den Fenstern der Talbewohner, daß wieder einmal ein paar geplagte Menschenkinder dem öden Berufsleben entflohen waren, um einen Tag in den Bergen zu verleben.
Die Nach war schwül und lauer Wind strich leise um die Hütte. Unsere aufgeregten Nerven ließen uns nur schlecht schlafen. Ein kurzer Schlummer, dann aus wirren Träumen jähes Erwachen! Mit offenen Augen lag ich nun da und sah durch das Fenster den jungen Tag erscheinen. Gleichmäßiges, fahles Grau bedeckte den Himmel, leise wehte der Morgenwind und die Riesenwand schaute schwarz und dräuend auf uns armselige Menschlein nieder. Da zog ein düsterer Mollklang traurig durch meine Seele; ahnte sie das harte Ringen, das unser wartete…?
Schon als kleiner Junge war ich einmal hineingekommen zur Geraerhütte und hatte staunenden Auges die gigantische Nordwand des Schrammachers geschaut. Später war ich wiedergekommen, um sie auf ihre Gangbarkeit zu prüfen, doch geschlagen von den fürchterlichen Steinlawinen trollte ich mich beschämt wieder zum Tale hinaus. In unerhört glatter Plattenflucht bäumte sie sich aus den geborstenen Eismassen des Alpeinerferners auf. Doch nicht in erhabener Ruhe liegt diese schwarze, dämonische Wand, nein, denn fast ununterbrochen dringt das Donnern und Krachen der Steinlawinen an das erschreckt aufhorchende Ohr. Ja, selbst in der Nach treibt dort der Steinschlag sein unheimliches Spiel und gar mancher Bergsteiger, der im Hochsommer auf der Geraerhütte weilte, wird sich dessen erinnern. Aber wenn die gelben Blätter von den Bäumen fallen und der Herbststurm mit kaltem Hauche die gefährlichen Geschosse fest an ihre Unterlage kittet, dann ist es Zeit, an die Ausführung solcher Fahrten zu schreiten.
Vor 26 Jahren, am 25. September 1895, durchstieg der kühne Drasch, an Mut und Können weit seiner Zeit voraus, diese Wandflucht. Auch er hatte erkannt, daß diese Tur nur im Herbste durchzuführen sei und dem Vorurteile der gesamten damaligen Zillertaler Führerschaft trotzend, führte er sein Vorhaben, begleitet vom Führeraspiranten Joh. Lechner, siegreich aus. Die zunehmende Schwierigkeit des vereisten und plattigen Gesteins zwang ihn schließlich, den direkten Durchstieg aufzugeben und die Wand gegen den Westgrat hin zu durchsteigen. Tief und erhaben waren seine Eindrücke auf dieser seiner schwersten Fahrt. Wir jungen Bergsteiger, die wir noch mitten im Sturme und Drange stehen, schütteln die Bedenken über mögliche Gefahren leichter ab, als ein gereifter, älterer Mann. Wir alle suchen eben in den Bergen das Erlebnis, das geheimnisvolle, undefinierbare Etwas, das uns hinaufzieht zu den sturmgepeitschten Gipfeln. Und zufrieden und glücklich kehren wir dann wieder heim in die Niederungen, froh, etwas geleistet zu haben, wenn es auch niemandem zu Nutze ist.
Als es heller Tag war, standen wir, mein Freund Baumgartner und ich, droben auf dem Eise des Alpeinerferners und legten das Seil an. Dann querten wir so rasch als möglich den Ferner, um zu unserem Einstieg zu gelangen. Überall zeigten sich im Eise die Einschlaglöcher des sommerlichen Steinschlages, mit den eingeschmolzenen Felstrümmern. Besorgt flogen unsere Blicke die Wand hinauf – aber es blieb still. Der Neuschnee, der im oberen Wandteile lag, war gefroren und bannte das lose Gesindel. Um 8 Uhr morgens wechselten wir am Rande des Eises die Genagelten mit den Kletterschuhen, um rascher vorwärts zu kommen. Ein kleiner Sprung über die Randkluft und wir legten Hand an die Wand, die uns erst nach langem, harten Kampfe den Sieg gönnen sollte.
Ein Quergang war der Beginn. Über Gneisplatten, die an ihrer Oberfläche ganz zermürbt waren, strebten wir einem Pfeiler zu. Rascher kamen wir nun auf diesem empor. Wir gingen gleichzeitig, denn würde durch die Tageswärme Steinschlag eintreten, so sollte er uns nicht mehr im unteren Wandteile überraschen. Rastlos kletterten wir aufwärts und nur selten unterbrach ein hastiger Ruf unsere Tätigkeit, wenn sich das Seil irgendwo verhängt hatte. Nach zwei Stunden waren wir 400 Meter durchgeklettert und wir ließen uns nun auf dem Kopfe eines zweiten, kleineren Pfeilers zu kurzer Rast nieder. Es war dies eine der wenigen, vorspringenden Wandstellen, die von der Sonne getroffen werden und gar wohlig wärmten uns ihre Strahlen. Mit unseren Beobachtern, die drunten auf dem Moränenrücken saßen, verständigten wir uns durch Rufe und sie wunderten sich nicht wenig über unser rasches Vordringen. Einige rotgefärbte, ganz morsche Leinenstreifen, die wir fanden, bewiesen uns, daß wir den Spuren Dr. Drasch’s folgten. Von den Steindauben, die er errichtet hatte, war nichts mehr zu sehen; die waren wohl schon lange auf den Gletscher hinuntergefegt worden. Von unserem Pfeilerkopfe ging Dr. Drasch nach rechts zum Westgrate, während wir direkt zum Gipfel wollten und uns nach links wandten. Vorerst mussten wir die mit Eis und Schnee gefüllte Steilrinne, durch die wir heraufgekommen waren, nach links queren, um zum Beginne eines Neuschneestreifens zu gelangen, der sich fast horizontal durch die Wand nach Osten zog. Wir hatten darunter ein Band vermutet, das uns zu einem kleinen, in der Gipfelfalllinie gelegenen Eisfelde führen sollte und erlebten nun die erste Enttäuschung, denn es waren nur etwas weniger steile Platten, auf denen sich der Schnee gehalten hatte. Ihre Überwindung war schwer und mahnte uns zu äußerster Vorsicht. Mit dem kurzen Eisbeile schlug ich die gefrorene Schneedecke durch und lautlos versank der in die Bresche gestellt Fuß im weichen Pulverschnee. Die halberstarrten Finger mussten sich mit kleinen, vereisten Leisten begnügen, die aus den Platten herausragten. Natürliche Sicherungsgelegenheit gab es an diesem unheimlichen Plattenpanzer nicht; da trieb ich denn mit klingenden Schlägen den ersten Sicherungshaken in eine Ritze. Kaum ertönte das scharfe Knacken des Karabiners, der Seil und Hakenring verbindet, als schon Freund Baumgartner erschien, dem es auf seinem Stande – in Kletterschuhen im Schnee – zu unbehaglich wurde. An dem Haken gesichert, wechselten wir nun die Beschuhung.
Dr. Fritz Drasch schreibt über die Bänder folgendes: „Das Fehlen guter Griffe und außerdem der große Mangel geeigneter Vorsprünge zur Seilversicherung, machen diese Tur mit Rücksicht auf die häufigen Traversen auf schmalen, abschüssigen Bändern, Gesimsen und Eishängen zu einer gefährlichen. Ich nenne eine Passage insbesonders dann gefährlich, wenn ein Fehltritt, ein Fallen, durch das Seil des Gefährten nicht paralysiert werden kann. Ein Gleiten würde fast überall für einen mit dem Seile verbundenen Gefährten höchst mißlich sein. An manchen Stellen müsste aber das Fallen eines Gefährten unbedingt auch den Sturz des anderen zur Folge haben.“ (ÖAV Z. 1986).
Wir wollten nun keineswegs den jähen Sturz in die Tiefe antreten, wenn etwa einer auf den schneebedeckten Platten ausgleiten sollte – ebenso wenig dachten wir an Umkehr – griffen daher lieber zu künstlicher Sicherung. Das Band, auf dem wir nun weiter vordrangen, wurde durch eine Rippe gesperrt; hinter dieser, bei dem kleinen Eisfelde, mußte sich entscheiden, ob wir auf unserer geplanten Route weiterkommen würden oder nicht. Einige Seillängen, dann lag dieselbe hinter mir. Ein staunender und zugleich unwilliger Ausruf meinerseits brachte Freund Kuno schleunigst nach und mit Kummer sahen wir die glatten Zentralgneisplatten, fugenlos aneinandergereiht, zum Gipfel aufragen. Es hätte der Steilheit wohl gar nicht bedurft, um ein Durchkommen unmöglich zu machen, denn sie waren auch noch mit einem mehrere Zentimeter starken Eispanzer überzogen. An ein Emporkommen in der Geraden war nicht zu denken. Schwärzliche Streifen zeigten sich an der Oberfläche des vor uns liegenden Eisfeldes, vom herabrinnenden Schmelzwasser herrührend, das auch den Neuschnee teilweise weggeschwemmt hatte. Östlich dieses Eisfeldes strebt ein gratähnlicher Pfeiler empor; den weiteren Verlauf konnten wir zwar von unserem Stande aus nicht sehen, aber auch unsere Niedergeschlagenheit war im Augenblicke dahin. Dort drüben war eine Möglichkeit, weiterzukommen – also hinüber! Dies war aber leichter beschlossen als ausgeführt. Vorerst kletterte ich am westlichen Rande des Eises so hoch als möglich hinauf; dann machte sich Freund Kuno, der Steigeisenbewehrte, von oben her gesichert, ans Stufenschlagen. Vorsichtig räumte er die etwa 20 Zentimeter starke Neuschneeschichte ab, bis er endlich im Eise den Tritt sicherstellen konnte. Eine Stunde dauerte es, bis sich Baumgartner durchgearbeitet hatte, dann durfte ich nachkommen. Wir saßen nun drüben auf schmalem Bande und ließen unsere Blicke umherschweifen. Während der Kletterei nahm der Fels unsere Aufmerksamkeit derart in Anspruch, daß wir nicht Zeit hatten, uns umzusehen, jetzt war es aber anders. Überwältigend war der Anblick und doch kam uns die Großartigkeit des Geschauten kaum zum Bewußtsein. Ein Gefühl des Verlassenseins legte sich schwer auf unser Gemüt. Kalt und schwarz war der Fels, der uns umgab, und die eingebetteten Eisfelder erhöhten noch das abweisende, unfreundliche Aussehen dieser Wand. Ungleich düsterer war der Eindruck gegenüber dem, den der Bergsteiger empfindet, wenn er in hellem, sonnendurchwärmten Fels der Kalkalpen einem Gipfel zustrebt. Seltsam war der Gegensatz zwischen der schwarzen Riesenwand, in der wir uns befanden, und den sanften Formen der Tuxer Vorberge, auf deren grasigen Hängen heller Sonnenschein lag. Weiter im Norden ragten die weißen Riffe der Kalkalpen zum Himmel; im Karwendel und Wetterstein grüßten wir liebe, alte Bekannte.
Ein eigenartiges Knirschen machte uns wieder auf unsere nächste Umgebung aufmerksam. Immer stärker wurde es, da ging plötzlich ein klaffender Riß durch die Stufenreihe und starr vor Staunen sahen wir den unteren Teil des Eishanges donnernd die Wand hinabstürzen. Aufgeregt sahen wir hinab zu den noch immer gierig geöffneten Schlünden des Gletschers, die soeben die Eislawine aufgenommen hatten. Dann lag alles wieder so ruhig da wie zuvor, nur in uns stürmte und wogte es weiter – unsere Phantasie arbeitete fieberhaft. – Sicher war durch die geschlagenen Stufen der innere Zusammenhang des Eises gestört worden; der tiefere Hang hatte keinen Halt mehr auf der Plattenunterlage und kam ins Gleiten. Wir hatten wohl zu viel gewagt, als wir den Eishang angriffen, doch das Glück stand ja bei uns und – wer hätte noch nie einen Fehler in den Bergen gemacht?
Etwas verstört machten wir uns auf den Weiterweg. Der Pfeiler, der nunmehr emporführte, war ein gar trotziger Geselle und nur ungern ließ er sich von nimmersatten Menschlein bezwingen. Doch gewaltig zog es uns empor, der Sonne entgegen, die den Fels über ihm heller aufleuchten ließ. Bald empfing sie auch uns, die wir so lange im kalten Wandschatten kletterten, mit ihren wärmenden Strahlen.
Wenige Dutzend Meter kamen wir in immer schwerer werdender Kletterei empor. Eis und Schnee überzog wieder das Gestein, erst in kleineren Flecken nur, dann aber in zusammenhängendem Felde. Der Pfeiler, auf den wir unsere Hoffnung stützten, wurde immer flacher und verlor sich einige Meter höher ganz im Eis. Bitterer Zwang war nun die Fahrt geworden; entweder über den dünnen Firn zum lockenden Gipfel, oder zurück durch die lange, lange Wand! Acht Stunden waren wir bisher unterwegs – nur noch 150 bis 200 Meter trennten uns vom Gipfel, und da sollten wir zurück? Aber den Gang über das Eisfeld anzutreten, dem widersprach wieder der kühle Verstand. Und doch siegte das Bergverlangen in uns! Wag’s und gewinn’s – wer begriffe wohl die Seele des Bergsteigers in solchen Lagen?
Drei Haken trieb ich in das morsche Gestein – wir wollten alle Vorsicht, die uns zu Gebote stand, anwenden. Das Rufen unserer Beobachter, das dumpf und warnend unser Ohr traf, verstummte erschreckt, als sich Freund Kuno anschickte, den Eishang anzupacken. Energisch beginnt er die Stufen zu schlagen. Zehn Meter geht es gut, dann aber klagt er über das schlechte Eis. Große Schollen brechen aus, wenn er nur ein wenig stärker schlägt. Vorsichtig und langsam meißelt er nun die Stufen. Das Eis ist so steil, daß er sich auch Griffe für die rechte Hand herausarbeiten muß. – – – –
Langsam, unendlich langsam geht es vorwärts. Das Eisfeld ist etwa 120 Meter hoch und 60 Meter breit; seine Neigung dürfte wohl gegen 50 Grad gehen. Zirka 20 Meter unterhalb wird die Wand überhängend. Die Eisstücke, die Kuno losschlug, tanzten den Hang hinab und flogen dann in weitem Bogen durch die Luft, hell aufleuchtend im Sonnenlichte. Doch auch dieses Schauspiel kann ich nicht lange mitansehen. Stumpfsinnig untersuche ich den Haken und Seile, müde und schläfrig werden mir die Sinne, jetzt, wo sie wach und angespannt bleiben sollten. Paul Güßfeld schreibt von einer ähnlichen Lage, in der er sich bei einer Tur über die Berninascharte (im Jahre 1878) befand, folgendes: „In dieser schwindelnden Höhe – denn das ist sie im buchstäblichen Sinne des Wortes – machte ich von neuem die Wahrnehmung, daß es absolute Schwindelfreiheit überhaupt nicht gibt und daß das, was wir so nennen, nur ein höherer Grad von Widerstandskraft gegen sinnverwirrende Einflüsse ist. Sie machen sich geltend, sobald die vier Hauptbedingungen: offene Abgründe, unsicherer Stand, erzwungene Untätigkeit und langes Verweilen, gleichzeitig vorhanden sind; sie äußern sich nicht im Taumel oder in dem Wunsche, um jeden Preis, also auch um den des Sturzes, aus der unerträglichen Lage befreit zu werden, aber man fühlt ihre Wirkung, wie wenn ein elektrischer Strom durch das Gehirn zöge.“
Ein Zuruf Kunos lässt mich auffahren aus meinem dumpfen Brüten – das Eis ist so dünn geworden, daß er bei jedem Hiebe die Gneisplatte durchspürt, ja manchmal sogar bloßlegt. Wir ermuntern uns gegenseitig zur Vorsicht, dann klingen wieder hell die Pickelschläge aus der Wand, von seinem Vordringen Kunde gebend. Länger und länger wurde der Schatten Kunos auf dem Eise, da huschte plötzlich ein düsterer Schatten durch die Wand! Erschreckt sahen wir, wie eben die Sonne hinten am Horizont verschwand. Keiner hatte auf sie geachtet, so kam uns die hereinbrechende Nacht überraschend. Es war halb 7 Uhr abends.
Fieberhaft schlägt nun Kuno die Stufen, aber immer noch trennt ihn ein Eisstreifen von den jenseitigen Felsen. Längst schon hatte ich das 40 Meter lange Reserveseil angeknüpft und in weitem Bogen lagen nun bald 70 Meter auf dem Eise. „Nur noch wenige Meter“ rufe ich hinüber, sehen kann ich ihn nicht mehr, denn es ist Nacht geworden. „Ich bin drüben“ kam es zurück und das Klirren eines Hakens wurde hörbar. Bald war die Sicherung geschaffen – ich riß die meine heraus und lief mit starr gefrorenen Füßen die Stufenreihe hinüber. Angekommen, klammerte ich mich zitternd und frierend an den Eisenring, aber wir hatten nicht Zeit, uns auszuruhen. Mit erstarrten Fingern seilte ich mich los und zog das 40-Meter-Seil gedoppelt durch den Ring. Wir waren etwas zu hoch gekommen und standen am Rande einer gewaltigen Platte. Nach ungefähr 15 Meter Abseilen erreichte ich ein Band, auf dem wir vereint stehen konnten. Kuno kam nach und während er das Seil abzog, machte ich die elektrische Lampe gebrauchsfertig. Gespenstig leuchteten die weißüberzuckerten Felsen auf, als der Lichtkegel über sie hinstrich. Die Freunde, tief, tief unten gaben durch Rufe zu erkennen, daß sie unser Lichtlein sahen.
Schwer war das Ringen um den Ausstieg, doppelt schwer durch die Nacht und Kälte. Nur immer wenige Meter beleuchteten Fels sahen wir vor uns. Sorgfältig mußten die Griffe vom Schnee gereinigt werden. Wilder Trotz, vereint mit Zuversicht, hatte sich unser bemächtigt. Durch mussten wir auf alle Fälle und unser Können wuchs mit den Schwierigkeiten, die sich uns in den Weg stellten. Je näher wir dem Gipfelgrate kamen, desto brüchiger wurde der Fels. Jeder dritte Griff brach aus, unwillig warf ich die tückischen Stücke in die Luft – Aufschlag hörten wir keinen – lautlos versanken sie im Dunkel der Nacht. Da endlich taucht die Grathöhe auf, die Wand wird weniger steil und nach wenigen Minuten drückten wir uns aufatmend und ernst die Hand. Dieser stumme Händedruck dort oben, nach dem Gefährlichsten, was wir je bestanden, war uns mehr wert, als tausend Freundschaftsbeteuerungen drunten im Tale. Dann legten wir das Seil ab, das uns durch die ganze Wand verbunden hatte, zum gemeinsamen Siege.
Gerne ließen wir uns jetzt zur wohlverdienten Rast nieder. Fahler Mondschein lag auf den Firnen der Zillertalkette – Mösele und Hochfeiler, die beiden Schönen und Gewaltigen, sie lagen uns ja gerade gegenüber. Stolz ragten sie hinein in den sternenbesäten Himmel. All die vielen Hochgipfel, die uns umgaben, nach aufwärts wiesen sie wie gewaltige Riesenfinger – – empor! Doch kein dauernder Aufenthalt sind diese ragenden Höhen für den Menschen im Tale, wußten wir doch liebe Freunde drunten im gastlichen Hüttlein.
Endlos lang schien uns der Abstieg über den Nordostgrat. Als wir drunten standen in der Alpeinerscharte und still das Seil aufrollten, ging es gegen Mitternacht. Dann liefen wir den Steig hinab zur Geraerhütte.
Dort, wo wir am frühen Morgen den Gletscher betreten hatten, blieben wir stehen. Wir waren wieder am Fuße der ungeheuren Wand, die uns so ungern durchgelassen hatte. Ruhiges Mondlicht lag im oberen Wandteile und beleuchtete die Stufenreihe, die schräg aufwärts durch das letzte Bollwerk führte. Fröstelnd zuckte ich zusammen – war es der Gedanke an ein Ausgleiten da oben, 800 Meter über dem Gletscher, oder war es der kühle Nachtwind? . . . ich weiß es nicht.
Die Nervenanspannung, die auf uns lastete, wich nur langsam. Kein Stein konnte mehr treffen und kein stürzendes Eisfeld uns in die Tiefe reißen; wir waren Sieger geblieben, weil wir viel gewagt – und Glück gehabt hatten, unbändiges Glück. Der Bergsteiger begibt sich ja auch in Gefahr, wenn er den Berg von der leichtesten Seite besteigt; immer aber hat er die leise Hoffnung, sie zu überwinden und dadurch neue Lebenswerte zu gewinnen. Je größer nun der Kampf mit den Berggewalten, umso tiefer auch die Befriedigung nach gelungener Fahrt!
Wenige Stunden noch barg uns das kleine Hüttlein, dann zogen wir in stiller Nacht, wie wir gekommen waren, wieder das Tal hinaus.
Friedl Pfeifer