Die Nordwand der Triolet, 1948 (5. Begehung)

Das Mittagsbähnlein führt meinen Klubbruder und kampferprobten Seilgefährten Luis Vigl und mich nach Argentiere, dem Ausgangspunkt für Bergfahrten zur gleichnamigen Hütte. Nach einer halben Stunde Talwanderung erreichen wir die Zunge des mächtigen Argentieregletschers, der seine Eismassen bis in die Talsohle, auf 1200 Meter Höhe vorschiebt. In endlosen Serpentinen schrauben wir uns höher, wobei der zu unserer Linken steil abfallende Gletscherstrom immer wieder unsere Blicke fesselt. Die Luft ist zu schwül, um dem Wetter trauen zu können. Und als wir den oberen Gletscherboden betreten, sind bereits die Wandfluchten von einem Nebelschleier verhängt. Nach achtstündigem Marsch erreichen wir um 8 Uhr abends die Hütte und suchen bald unser Lager auf, denn nur kurze Rast ist uns vergönnt.
Sternklarer Himmel wölbt sich über die hehre Hochgebirgslandschaft, als wir um 2 Uhr früh den fast ebenen Gletscherboden einwärts schlendern, unserer Wand entgegen. Wie ein Bollwerk ragen die Nordwände der Triolet, Courtes, Droites und Verte gleich schwarzen Ungeheuern in den dunklen Nachthimmel. Totenstille herrscht im Umkreise. Ist es die Ruhe vor dem Sturm? Wir hängen unseren Gedanken nach: Was werden wohl die nächsten Stunden bringen?
Beim ersten Morgengrauen stehen wir am Bergschrund. Blutrot geht die Sonne im Osten auf, leichte Wolkenschleier überziehen den Himmel, und ein lauer Wind strecht von den Graten. Sollte etwa wieder einer jener im Montblancgebiet so überraschend eintretenden Wetterstürze unser Vorhaben vereiteln?
Wir steigen in die Eiswand hoch. Nebel fällt über die Gipfel ein, und im Nu ist alles um uns grau. Wir beraten lange, der Auftrieb ist zu groß, um einfach verzichten zu können. Doch schließlich hat doch die Vernunft gesiegt: Bei zunehmendem Schneesturm gehen wir wieder zur Hütte zurück und haben wohlgetan, denn unaufhörlich tobt es den ganzen Tag um die Hütte.
Wieder stehen wir um 4 Uhr morgens am Einstieg der Triolet-Norwand. Zwanzig Zentimeter Neuschnee liegen auf dem Gletscher, die Wand selbst aber glänzt von blankem Eise. Unser Vorhaben scheint zu gelingen. Bewaffnet mit dem üblichen Rüstzeug eines Eisgehers gehen wir ans Werk.
Über einen mächtigen Lawinenkegel streben wir dem untersten Bergschrund zu, der heute leichter zu überklettern ist als tags zuvor, da die vielen Lawinen denselben fast überbrückt haben. Wir wechseln uns in der Führung ab, um ein Übermüden zu verhindern. Nach zwei weiteren Bergschründen stellt sich die Wand erst richtig steil auf. Über harte Firnstreifen gewinnen wir rasch an Höhe und halten uns auf einen Felskopf, direkt unter den riesigen Seracs des Mittelstückes, zu. Kein Wunder, wenn uns der Atem ausgeht: 70 bis 80 Meter hohe Stufen in einem Atem durchgehend, und dies in raschem Tempo, da man sich ja nicht gern unter diesen Eisbalkonen, die jeden Augenblick herunterstürzen können, bewegen will, ist eine schwere körperliche Anstrengung. Die nächste Seillänge ist gleich das richtige für Luis, den Eisspezialisten. Es gilt, die Parallelrippe zu gewinnen, die durch einen Eisschlauch, die Sturzbahn der oberhalb befindlichen Seracs, von unserer getrennt ist. Das Eis ist beinhart und erfordert anstrengendste Stufenarbeit. Auch diese 30 Meter versteht mein Freund zu meistern, und aufatmend vernehme ich das „Nachkommen“. Über schmale Firnstreifen kommen wir wieder rascher höher, wir verspüren nichts von Stein- und Eisschlag, dafür macht sich aber die Kälte umso empfindlicher bemerkbar. Vom Grate kommen kleine Neuschneelawinen wie silberne Schlangen auf uns zu und überschütten uns mit Pulverschnee. Mit zunehmender Steilheit werden die Firnstreifen immer schmäler und dünner und lassen das Blankeis zutage treten. Bis hierher mag die Wand eine Neigung von ungefähr 60 Grad haben, was ja an und für sich für eine Eiswand eine beachtliche Steilheit ist. Aber nun wird sie noch steiler und das Eis von Meter zu Meter härter und gefährlicher. Die Abstände der Seillängen werden geringer und die Standstufen häufiger, die Wadenmuskeln sind zum Zerreißen angespannt.
Nun haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder links der Seracs – zwischen diesen und den Felsen zieht eine schmale, unheimlich steile Rinne nach oben. Wir schätzen diese an der steilsten Stelle auf 70 Grad. Dies ist der Weg unserer Vorgänger Lachenal/Contamin. Oder aber als zweite Möglichkeit, rechts zwischen den Eisabbrüchen einen Weg durch zu finden. Uns scheint dieser Weg günstiger, das Problem ist nur, zu den Eistürmen hinüberzukommen, dann müsste es mit einigen Unterbrechungen gut durchgehen. Also – frisch gewagt ist halb gewonnen! Luis geht die Querung an. In Reichweite schlägt er immer eine gute Stufe, dazwischen trippelt er auf den vorderen beiden Zacken der Zwölfzacker. Einige Zwischenhaken sichern sein Tun. Wir glauben, mit einer Seillänge hinüberzukommen, doch wir haben uns darin getäuscht. An einen Eishaken gebunden läßt Luis mich nachkommen. Wir wissen, daß sich keiner von uns beiden einen Sturz erlauben dürfe, denn einen solchen würde das Seil, von dem wir anfänglich glaubten, daß es aus Nylon wäre, niemals aushalten. Ich löse Luis in der Führung ab. Das Standwechseln erheischt größte Vorsicht. Die Steilheit der Eiswand drückt den Körper so stark hinaus, daß nur mit Hilfe von Griffen das Gleichgewicht gehalten werden kann. Bei jedem Pickelhieb springen ganze Schollen ab, und nur millimetertief dringen die Vorderzacken der Steigeisen in das spröde Element. Zu allem kommt die enorme Ausgesetztheit, wie ich sie nur von Felswänden her kenne. Denn einige Meter unter uns bricht die Wand senkrecht ab und kommt erst wieder tief unten in unser Blickfeld. Nun wechselt auch die Beschaffenheit des Eises, das jetzt weich und morsch wird, und immer wieder stoßen wir mit dem Pickel in Hohlräume. Es folgt ein fast senkrechter, 20 Meter hoher Eiskamin, der sich mit Spreiztechnik und Verkeilen des Pickels gut überwinden läßt. Wir glauben, nun würde die Steilheit der Wand beträchtlich abnehmen und endlich ein ersehnter Rastplatz kommen. Doch es will kein Ende nehmen. Querungen und Schräganstiege wechseln ab, und noch immer baut sich die Gipfelwand mit einer durchschnittlichen Steilheit von 60 Grad über uns auf. Endlich kommen wir in die Sonne und können unsere steifen Glieder etwas erwärmen. Die Höhenluft macht sich bemerkbar, und wir werden müde. An einem Bergschrund oberhalb der Seraczone halten wir kurze Rast und holen aus unseren Rucksäcken erstmals seit dem Frühstück einige Bissen unseres Proviants. Von der Hütte werden uns nun Sensationslüsterne mit dem Fernrohr beobachten, und gerne hätten wir das verdutzte Gesicht unseres Wirtes gesehen, der uns vor Antritt unserer Bergfahrt mit dem Bemerken abgeraten hatte, daß wir doch niemals diese Wand hinaufkämen, da sich schon Bessere als wir es sind, daran versucht hätten.
Dreihundert Meter Wand mögen es noch bis zum Grat sein. Teils auf Rippen, teils auf Blankeis kommen wir, die nötige Vorsicht nie außer Acht lassend, nur langsam höher. Unser Tempo hat sich wesentlich verringert, und es ist 1 Uhr mittags, als wir auf den Grat hinaustreten. Jäh fällt er drüben ab. Wegen der Ungewissheit des Abstieges verzichten wir auf den Gipfel der Grand Triolet und geben uns mit der Kleinen Triolet zufrieden. Nebelfetzen kommen aus dem blauen Himmel dahergejagt und legen sich um Grate und Gipfel. Sie zwingen uns, unseren Abstieg ausfindig zu machen, und hätte sich der Nebel nicht wieder gelichtet und die Sicht nach unten freigegeben, wären wir auf italienisches Gebiet abgestiegen. Nun aber lassen wir uns etwas unterhalb des Ausstieges auf einem kleinen Sattel zur wohlverdienten Gipfelrast nieder.
Es läßt sich nicht in Worte fassen, welch grandiose Berglandschaft sich unseren Blicken erschließt. Wir werden für unseren gefahrvollen Weg reichlich belohnt. Die Triolet ist ein Gipfel mittlerer Höhe und gewährt infolge der zentralen Lage einen besonders guten Einblick in die Hochgebirgswelt des Montblanc. Zur Linken schaut gerade noch über Nebelfetzen die gleißende Kuppel des Monarchen mit der Brenvaflanke und dem gezackten Peutereygrat hervor, rechts davon der Mont Maudit, Dent du Geant und in greifbarer Nähe die schwarze Riesenwand der Grandes Jourasses, wohl die imposanteste Berggestalt der ganzen Gruppe. Wie eine feine Linie fällt vom Gipfel des Point Walker der berüchtigte Nordpfeiler lotrecht in 1200 Meter hoher Flucht zum zerklüfteten Geantgletscher ab. Unter uns, jenseits des Mer de Glace, eine Reihe von Zacken und Nadeln, die Aiguilles von Chamonix, uns von vorangegangenen Touren schon sehr vertraut. In scharfem Kontrast der dunkle Granit zu den weißen Gletschern und Schneefeldern. Es ist wohl meine schönste Gipfelstunde, die ich bisher erleben durfte.
Leider ist es uns nicht lange vergönnt, zu verweilen. Noch ein Blick zur Tiefe, über die Wand, der wir soeben entstiegen waren, dann nehmen wir Abschied von der prächtigen Schau. Über den steilen, zerklüfteten Trioletgletscher müssen wir mehr waten als gehen, die Sonne brennt unbarmherzig auf uns hernieder und hat den Schnee zu einem schlüpfrigen Brei verwandelt. Oft stehen wir bis an die Knöchel in kaltem Eiswasser. In tollen Sätzen springen wir über das apere Mer de Glace hinaus, um noch rechtzeitig die Zahnradbahn nach Chamonix zu erreichen, und um 7 Uhr abends treffen wir in Le Praz außerhalb von Chamonix in der Ecole Nationale, von unseren Freunden und Gastgebern auf das herzlichste beglückwünscht, wieder ein.
Wie wir dann aus den respektvollen Reden der Franzosen entnehmen, zählt die Triolet Nordwand, deren fünfte Begehung uns gelungen war, zu den schwersten und steilsten Eiswänden unserer Alpen. Wir sind nicht wenig stolz darauf.
Hermann Buhl