Anden-Bergfahrt 1987

Am 11. Juni 1987 erreichen wir kurz nach Mittag das Hochlager unter dem Alpamayo.
Wir sind 9 Klubkameraden: Hansjörg Köchler, Peter Konzert, Klaus Brentel, Klaus Prinz, Harald Zwirner, Hans Würtenberger, Schorsch Ruetz, Wolfi Egger und ich, der Raymund Ruf. Nach einem gemütlichen Frühstück und einem geruhsam begonnen Vormittag im Tallager kam plötzlich Hektik auf; weil wir erst Nachmittag aufbrechen wollten, begann jeder gemütlich herumzukramen; sämtliche Ausrüstung wurde kontrolliert und hergerichtet, aber immer wieder durcheinandergebracht, bis endlich die 9 riesige Rucksäcke bereitstanden. Und dann gabs plötzlich kein Halten mehr, der Aufbruch brach aus wie unter Karwendlern üblich. Über die steile Moräne aufwärts blieben wir beisammen und hielten am Übergang zum Gletscher noch eine gemeinsame Rast. Doch dann ging jeder sein Tempo – weit voran Brentel und die anderen Haller, dann gestaffelt nach Kondition bis zu mir, dem als Ältesten die Rolle des Schlußmannes schließlich auch zusteht. Die Verhältnisse im Eis waren bestens, selbst in den steilsten Passagen brauchten wir keine Steigeisen, im Firn konnte man leicht Stufen treten. Für mich war es eher ein Kampf mit meinem über 20 kg schweren Rucksack, aber ich konnte mir ja Zeit lassen. Um etwa 13 Uhr erreichten wir dann das etwa 5.400 m hohe Joch und gleich darunter, auf einem ebenen Gletscherplatz, richteten wir das Hochlager ein. Direkt gegenüber steht nun der Alpamayo – eine wundervolle weiße Pyramide aus Riffeleis, das Hauptziel unserer Reise. Es ist wirklich ein wunderschöner Berg, fast 6.000 m hoch, einer der schönsten Berge, die ich bisher gesehen habe. Steil und abweisend scheinen seine Flanken, in der Draufsicht beängstigend steil. Wir sehen aber auch durch eine der Rinnen die zarten Spuren unserer Vorgänger und wir werden ganz begierig, diesen traumhaft schönen Berg über seine steile Eisflanke zu besteigen.
Unser Lagerplatz ist ein großer ebener Platz am Gletscher, der zum Alpamayo hin steil abfällt. Wir sind nicht allein, zwei kleine Zelte waren schon hier von Leuten, die heute am Gipfel waren und nach uns kommt noch eine Gruppe Deutscher, die ebenfalls morgen den Gipfel besteigen wollen. Wir haben aber alle leicht Platz, es geht sehr ruhig zu und der ganze Lagerplatz ist überraschend sauber; jeder hat anscheinend sein Häufchen ordentlich vergraben, seinen Müll wieder mitgenommen (oder in tiefen Spalten unsichtbar deponiert) und das Depot für die Entnahme von Schnee zum Schmelzen ist peinlich sauber. Wir sind sehr zufrieden, richten uns ein so gut es geht und haben viel Zeit zum Schauen. Unser Lagerplatz ist nach Westen zu frei und weit schweift der Blick über das zerklüftete Bergland. Als die Sonne den Horizont berührt, erglüht unsere Umgebung plötzlich in zartem Rosa, das immer intensiver wird. Die umstehenden Eisriesen, der Gletscher, alles leuchtet wie von innen heraus in phantastischen Pastellfarben, die bis ins tiefe Rot übergehen. Wir kommen uns vor, als seien wir in eine Märchenwelt verzaubert worden, in einen unwirklichen Traum. Jeder wird still und andächtig, tief prägt sich dieses großartige Schauspiel ein.
Wir hatten zwei Zelte aufgestellt, die 4 Haller nahmen Peter zu sich ins 4-Mann-Zelt, und Hansjörg, Schorsch, Wolfi und ich schliefen in unserem 3-Mann-Zelt. Die Nacht verbrachten wir eigentlich recht angenehm, obwohl es sehr kalt wurde (geschätzte 15 Grad unter Null). Ich selbst hatte überhaupt einen Schlaf wie ein Murmeltier und schlief tief und fest durch bis zum Wecken.
Um 4 Uhr früh ist Tagwache; es ist noch dunkel und bitterkalt. Das Ankleiden im engen Zelt ist mühsam, doch schon hört man das Brummen des Kochers, den Hansjörg bedient. Das Müsli schmeckt trotzdem nicht, jeder würgt daran herum, nur um den Magen voll zu kriegen. Nicht nur die Kälte, auch die Spannung vor dem kommenden Abenteuer schlägt uns auf den Magen. Vor dem Zelt ist die Kälte richtig beißend, aber der Vollmond taucht alles in sein mildes, silbernes Licht, und die Steilwand unseres Berges leuchtet geheimnisvoll und verlockend und mit einem Schlag ist alle Nervosität vorbei und wir bereiten uns ruhig und gelassen auf den kommenden Tag vor.
Prinz Klaus hatte leider eine schlechte Nacht; er hatte mit der Höhe große Probleme, hat kaum geschlafen und nun ist ihm bei schrecklichen Kopfschmerzen furchtbar schlecht. Es hilft nichts, er muß so schnell als möglich absteigen. Würtenberger Hans begleitet ihn und bringt ihn sicher über das Joch und über den steilsten Teil des jenseitigen Gletschers so weit hinunter, bis Klaus dann langsam alleine absteigen kann. Harald wartet auf Hans, der nachkommen will.
Wir anderen stolpern inzwischen im unsicheren Licht des Vollmondes, in dem alles so unendlich romantisch aussieht, auf den flachen Gletscher hinunter und streben der Eiswand zu. Es geht bald wieder bergauf, wird steiler und als wir die Randkluft erreichen, wird es gerade hell. Die Randkluft bietet keine großen Schwierigkeiten, Wolfi und Peter als erste Seilschaft finden gleich eine solide Brücke und steigen in die steile Rinne der Riffeleiswand ein. Als zweite Seilschaft kommen Brentel und ich dran, hinter uns gehen Hansjörg und Schorsch.
Die Verhältnisse sind großartig: fester, gefrorener Firn, in dem die Steigeisen und die Eisgeräte nur so beißen. Von unseren Vorgängern von gestern haben wir feste Stufen und Tritte, und an den Standplätzen finden wir jeweils zwei festgeschlagene Firnanker oder Eisschrauben, sodaß wir auch für das Einrichten der Standplätze keine Zeit verlieren. Schnell kommen wir höher; es ist gar nicht so steil, wie es von gegenüber ausgesehen hat, ich schätze so um die 55 – 60 Grad. Nur die Kälte beißt sich überall durch, mich friert in den Fingern und den Zehen ganz jämmerlich.
Der Anstieg wickelt sich in einer dieser tiefen Riffeleis-Rinnen ab, die wie eine steile Bobbahn in die Höhe schießt. Zu beiden Seiten wird die Rinne von phantastischen Eisgebilden begrenzt, die aussehen wie Märchenfiguren. Bald sehen wir auch Hansi und Harald unten am Gletscher nachkommen, die in tollem Tempo aufschließen. Manchmal kommt blankes Eis durch den Firn, aber es ist griffig und mit etwas Vorsicht geht es in wunderbarem Steigen aufwärts. Schade, daß uns die Sonne hier in der kalten Westwand nicht erreicht; erst weit oben beleuchtet sie die Eisgebilde zu beiden Seiten der Rinne und läßt sie bizarr aufleuchten. Die Rinne wird weiter oben immer steiler, aber die Verhältnisse bleiben gleich gut. Gewaltige Schaumrollen hängen nun direkt über uns, Eisgebilde, wie sie nur unter der steilen Tropensonne entstehen können. Es ist wahrlich eine phantastische Welt, durch die wir da aufsteigen.
Um etwa 10 Uhr erreichen wir das Ende des langen Eisschlauches und stehen übergangslos am Gipfel, eigentlich einem langen flachen Gratrücken, der nun in der hellen Sonne liegt und der nur mehr von einem riesigen Eispilz überragt wird. Nichts begrenzt mehr die Sicht, weit dehnt sich die wilde Gipfelwelt der Cordillera Blanca und im Osten sieht man weit in die dunkle Ebene des Amazonas, über der einzelne Schäfchenwolken schweben, tiefer als wir stehen. Es ist großartig, wir sind alle restlos glücklich. Brentel und Würtenberger besteigen auch noch den großen Eispilz, während wir anderen einfach sitzen und staunen.
Die Deutschen, die etwas seitwärts von uns kampiert hatten, wollten ursprünglich auch heute auf den Alpamayo, doch waren wir ihnen zuvor gekommen und so sehen wir sie nun als winzige Punkte über den Gletscher auf den gegenüberliegenden Quitaraju zustreben. Sie kommen aber nicht sehr weit und machen lieber einen Rasttag.
Nach einer guten Stunde wird uns trotz der Sonne kalt und wir beginnen in zwei Gruppen mit dem Abstieg, der in flotter Abseilfahrt von Standplatz zu Standplatz an den vorhandenen Firnankern vor sich geht. So sind wir bald wieder an der Randkluft und latschen durch das Gletscherbecken zurück zu unseren Zelten. Die Tropensonne heizt nun mächtig ein, wir schleichen uns durch die Hitze und sind um 14 Uhr wieder im Lager. Jetzt sind wir ordentlich müde und die Spannung läßt auch nach. Hansjörg stellt sich für die Wasserzubereitung zur Verfügung und er kocht und kocht, bis alle genug zu trinken haben.
Und dann kommt wieder einer jener Sonnenuntergänge, die man nie mehr vergessen wird; wieder wird alles in unwirkliche Pastellfarben getaucht, vom zartesten Rosa bis zum richtigen Abendrot und zum langsamen Verglühen des Tageslichtes in den Eisflanken. Als es bei uns schon dämmerig ist, strahlen die Firne ober uns noch wie von innen heraus beleuchtet. Jeder von uns steht und schaut und staunt über dieses Farbenwunder und wird still vor der Großartigkeit dieses Naturschauspieles. Als dann die ersten Sterne aufblitzen, schlüpfen wir rasch in die warmen Schlafsäcke, denn gleich wird es bitterkalt.
Es war ein großartiger Tag, einer der Höhepunkte meines Bergsteigerlebens und ich kann lange nicht einschlafen, so läuft alles im Kopf nochmals ab. Aber auch der Schlaf wird nicht so tief und traumlos, das Erlebnis läßt mich so schnell nicht los.
Am nächsten Morgen, bereits um 4 Uhr, rumoren Brentel, Konzert und Würtenberger schon wieder, sie brechen zum Quitaraju (knapp über 6.000 m) auf und wollen, daß wir anderen auch mitgehen. Aber wir sind entweder noch zu müde oder zu faul, und auch noch voll der Erlebnisse vom gestrigen Tag und wir kriechen einfach nicht aus unseren Schlafsäcken. Die Drei gehen somit alleine los.
Wir übrigen warten auf die Sonne und können gemütlich frühstücken. Inzwischen sehen wir unseren drei Freunde bereits aus der Eisflanke auf den Gipfelgrat aussteigen und um 830 Uhr sehen wir sie als drei winzige Punkte am Gipfel. Wir brechen inzwischen langsam unser Hochlager ab und steigen über die Scharte und den steilen Gletscher ins Basislager ab. Dabei merke ich erst, wie müde ich noch von gestern bin.
Im Basislager erwartet uns Prinz Klaus schon und bereitet ein üppiges Empfangsessen mit einem großartigen Kartoffelsterz. Er hatte sich bald wieder erholt und sich inzwischen gut ausgerastet.
Am späten Nachmittag treffen unsere drei Unermüdlichen vom Quitaraju auch ein, es wird ein gemütlicher, fröhlicher Abend. Leid tut uns allen nur, daß Prinz Klaus nicht mit am Alpamayo war. Und als wir alle das so ausdrücken, sagt Brentel ganz ruhig und gelassen: „Weißt was, gehen wir zwei halt morgen vom Basislager aus.“ Brentel meint das tatsächlich im Ernst, er scheint überhaupt nicht müde zu werden. Prinz Klaus war natürlich gleich dabei und so richten sie ihr Zeug für eine lange Tour noch am Abend her und liegen bald in ihren Schlafsäcken, während wir andern noch lange um das Lagerfeuer sitzen.
Am nächsten Tag brechen die beiden Kläuse wirklich schon um 4 Uhr früh auf, während wir alle noch lange und tief schlafen. Für uns wird es ein gemütlicher, ausgiebiger Rasttag mit waschen und pritscheln am Bach, trinken, faulenzen und viel fotografieren. Der Teekessel dampft den ganzen Tag. Als wir zu beraten beginnen, wie wir denn heute ohne Prinz Klaus zu unserem Mittagessen kommen sollen, sahen wir beide bereits oben über das Eis von der Scharte herabkommen und um 14 Uhr waren beide wieder im Basislager und Prinz konnte seine Pflicht als Chefkoch gleich erfüllen und sein Festessen selbst zubereiten. Sie waren unglaublich schnell vorangekommen, das Wetter und die Verhältnisse waren gleich gut wie bei uns und um 10 Uhr waren sie beide nach einem Aufstieg von fast 2.000 m bis in eine Höhe von fast 6.000 m am Gipfel! Eine großartige Leistung! Am meisten aber freute es uns alle, daß auch Prinz Klaus, und somit alle Teilnehmer, das Hauptziel unserer kleinen Expedition erreicht haben.

Abschließend möchte ich sagen, daß diese Fahrt auch heute, nach Jahren, immer noch in meiner Erinnerung lebendig ist. Immer noch sehe ich die leuchtenden Berge vor mir und empfinde das grenzenlose Glück, vom Gipfel in die unendliche Weite dieser herrlichen Welt sehen zu können. Und ganz besonders empfinde ich immer noch die Kameradschaft und tiefe Verbundenheit mit wahren Freunden. Mit solchen Kameraden kann gar nichts passieren, in einer solchen Gemeinschaft wird jedes Erlebnis besonders schön.