1. Rotpunkt-Begehung der direkten Nordwand (Hasse-Brandler) an der Großen Zinne durch Kurt Albert und Gerold Sprachmann am 10. September 1987

Idee
Ich weis nicht mehr, an welchem Kletterfelsen der fränkischen Schweiz es war, als mir Kurt Albert von seinen letzten Filmarbeiten an der Westlichen Zinne erzählte. Damals studierte ich in Erlangen und hatte die hehre Bergwelt gegen überhängende Mugel eingetauscht. Kurts abenteuerliche Erzählungen weckten jedoch sofort alte dolomitische Erinnerungen und neue Gelüste. Auf die Frage, ob denn nun die klassische Diretissima, -die Hasse-Brandler- an der grossen Zinne schon eine Rotpunktbegehung habe, gab es auch anschließend im Gasthaus noch kein gescheite Antwort. In den einschlägigen Heftln war bis dato noch nichts zu lesen. War eine der berühmtesten Kletterrouten tatsächlich von den Freikletterern vergessen worden? Oder war es bisher noch jedem als unmöglich erschienen? – „Der Gedanke allein muss abgleiten“, sagte ein berühmt gewordener Ausspruch aus dem vorigem Jahrhundert.

Da sich die studentischen Verpflichtungen Anfang September in Grenzen hielten, die Jahreszeit für  Nordwand, kleine Griffe, oder gar Biwaks schon beträchtlich fortgeschritten war, beschlossen wir nicht lange zu recherchieren, sondern gleich am nächsten Wochenende mit genügend Ausrüstung loszufahren.

Vor der Prüfung beschäftigt sich der Student mit Literatur:

/1/ Pause W. ; Im extremen Fels: „……..Der Ernst eines Dietrich Hasse und das souveräne Können seiner drei Freunde haben nun – man wagt es festzustellen – endgültige Maßstäbe gesetzt….“

/2/ Goedeke R.; Sextener Dolomiten: „……VI-(kurze Stellen); V+ und V sowie A1 und A0 im unteren Wandteil, A2 (auf 130m) in der grossen Verschneidung und V+, V und IV……..Dieser Bewertung sind etwa 140 Fortbewegungshilfen zugrundegelegt……Zu recht eine der berühmtesten Routen der Dolomiten und der gesamten Alpen…

/3/ Langes G.; Nordöstliche Dolomiten: „…. die Verschneidung ist ausschließlich mit Haken zu bewältigen. Nachdem man das erste Dach erreicht hat und durch einen Riss zum zweiten Dach gelangt, folgen andere Dachüberhänge, die man an den Haken überwindet. Schließlich quert man durch einen überhängenden Riss gegen links zu einem Vorsprung…… usw.“

Wie so oft, wenn der Prüfungstermin überraschend nahe ist, und schnell noch die Literatur studiert wird, zweifelt der Student an der ausreichenden Vorbereitung. – Und absolviert in diesem Fall noch ein deftiges Kraftausdauertraining zur Beruhigung.

Anlauf und Strudel
Bevor wir über den Brenner fuhren, gab es einen Zwischenstopp bei meinen Eltern in Kolsass. Was wir dort machten, heißt heute, glaube ich, Carbo-Loading. Jedenfalls war das Blech Apfelstrudel zu zweit kein besonderes Problem. Mein Vater präsentierte aus seinem Keller weitere unentbehrliche Ausrüstungsgegenstände,  die zu seiner Beruhigung im Auto verladen wurden. Am Abend, nach weiterem Carbo-Loading auf der Auronzo-Hütte und nach einigem Rotwein, beschlossen wir in voller Motivation: Aufbruch morgen um 6:00. So berichtet es Kurt später in einem Bergsteiger-Artikel. Ferner berichtet er, ich hätte am nächsten Morgen um 6:00 noch geschlafen. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Bestätigen kann ich jedoch, dass mich um 6:00 keiner geweckt hat; dies hat dann um 9:00 die lärmende Touristenkarawane erledigt. Wie auch immer, der erste Tag sollte der Erkundung und der Vorbereitung gewidmet werden.

Die Strategie:
Wir erwarteten Seillängen im 9. Grad und beschlossen folgende Strategie: Am ersten Tag, wie gesagt, Auskundschaftung der Schlüssellängen und, wo nötig Verbesserung der Standplätze. Am 2. und eventuell 3. Tag wollten wir die Schlüssellängen einüben, sodass sie bei der Durchsteigung nicht an die Kraftreserven gehen. Nach einem Ruhetag sollte dann die Rotpunktbegehung der gesamten Route probiert werden. Die Zwischensicherungen sollten nicht verändert werden – und damit auch nicht der Charakter der Tour. Und noch eins wollten wir nicht: biwakieren. Im Schatten und in der Nacht war es bereits saukalt.

„Einklettern“:
Der Karawane folgend erreichten wir den Paternsattel. Der Blick von hier in die Nordwand ist immer wieder beeindruckend – wie sie ohne Vorbau und Vorwarnung 500m kerzengerade aus dem Schotter pfeift. Der Eintritt in ihren Schatten war ebenfalls beeindruckend – willkommen in der Tiefkühltruhe. Dementsprechend knackig war unser Stil in den ersten Seillängen. Mein Freund verglich unsere Geschmeidigkeit mit der einer gefrorenen Forelle. Doch heute ging es noch um wenig. Der untere Wandteil löste sich recht gut mit konstanter Schwierigkeit im teilweise oberen 7. Grad. Wie geplant legten wir heute noch keinen Wert auf eine durchgängig freie Begehung der Seillängen. Vielmehr wurden gute und kraftsparende Varianten gesucht sowie gute und schlechte Griffe, Tritte und Haken mit Chalk markiert. Durch das Einhängen der vielen Haken und die ständig eingeflochtenen Linksquergänge entstand oft eine grausige Seilreibung zum Schluss der Seillängen. Da die meist kniffligen und splittrigen Wandpassagen gleich nach dem Stand losgingen, wurden fast alle Stände verbessert, was ziemlich Zeit kostete. In der großen Verschneidung ab etwa Wandmitte veränderte sich der Charakter der Kletterei dann in Richtung überhängende Riss- und Dachkletterei. Siehe /3/ Langes G. Doch auch in der großen Verschneidung mit mehreren Dächern und ordentlich überhängenden Rissen war kein 9er aufgetaucht. Wir beendeten unsere Arbeit am ersten Tag im obersten Teil der Verschneidung unter einem stark überhängenden Bauch mit Riss. Diese Seillänge schaute ordentlich schwer, aber durchaus machbar aus. Darüber schien sich das Gelände zurückzulegen. Es war schon spät, wir waren hungrig und durstig und es war höchste Zeit für den vorbereiteten Rückzug. Wir hatten in den oberen, stark überhängenden und in den unteren, querenden Seillängen, Seile fixiert, die ein relativ problemloses Abseilen ermöglichten. Der erste Abseiler war fast schon außerirdisch. So ähnlich stelle ich mir den Ausstieg eines Astronauten aus dem Raumschiff ins Weltall vor. Unter dir gibts bis zum Schotter unterm Einstieg nur mehr 300m Luft. Nach 40m Abfahrt zieht man sich 15m waagrecht zur Wand. Auch im unteren, vermeintlich senkrechten Wandteil zieht es einen regelmäßig von der Wand weg. Stockdunkel war es am Wandfuß und wir freuten uns aufs Abendessen.

Umplanen:
Schon beim 2. Bier waren wir uns einig, dass wir unsere Strategie abkürzen können. Wir beschlossen auf weitere Einübungen zu verzichten und gleich morgen einen ordentlichen freien Versuch zu machen. Die Einzelpassagen waren leichter als befürchtet. Dafür waren die Schwierigkeiten durchgehend und steigerten sich allmählich. Das Ganze wird ein Problem der Ausdauer. „Diese letzte überhängende Seillänge wird schon gehen – sonst müssen wir halt mehrmals probieren.“ Dass davor bereits 11 Seillängen zu klettern sind, und dass wir heute einen anstrengenden Tag hatten, wurde vorerst etwas verdrängt. In der Abenddiskussion landeten wir nach kurzer Zeit immer wieder beim selben Thema: „Wie geht diese Stelle?, dort ists besonders brüchig, wie schwer ist jene Passage? ……“ Es war erstaunlich: Wir hatten uns von allen relevanten Seillängen fast alle Passagen gemerkt. Hoffentlich konnte ich mit so einem geladenen Hirn einschlafen. – Das Bier hatte es besorgt!

Durchstieg:
Am nächsten Tag gehts los – nicht zu früh, wie wir gelernt hatten, denn vor 10:00 ist es für splittrige kleine Leisten noch zu kalt! Die Anspannung wird mit Späßen vertrieben und bald stehen wir unter der ersten schweren Länge. Es ist der 10. September und kalt wie in einem Kühlschrank. Ein Dachl und eine längere, steile, kleingriffige Wandpassage im oberen 7. Grad bilden den Auftakt. Mit tauben Fingern und Zehen ziehe ich mich drüber. Es geht gut – die Züge sind noch alle bekannt. Wenn man am zweiten Tag in der selben Wand klettert, fühlt man sich schon richtig heimisch! Langsam wird es auch wärmer und die Bewegungen flüssiger. Wir kommen flott weiter und die Kletterei macht großen Spaß, auch wenn man sich sehr konzentrieren muss, um sich nicht in eine Sackgasse zu versteigen. Große Aufmerksamkeit verlangt auch das nicht immer zuverlässige Gestein. Die Längen in der unteren Wandhälfte pumpen einem die Unterarme und die Wadeln auf, zusätzlich macht sich der gestrige Tag bemerkbar.

 Unter den Überhängen der großen Verschneidung machen wir kurze Pause. Als Getränk für den aufgekommenen Durst würde ich heute, als nunmeriger Radlfahrer etwas anderes auswählen. Nach einem halben Schluck picksüssem Succo di Limone verabschieden wir die in Toblach gekaufte Tüte ärgerlich und setzen sie der Erdanziehungskraft aus.

Die nächsten fünf Seillängen sind eher dem Unter- und Oberarm gewidmet. Die 8- Länge zum gestrigen Umkehrpunkt habe ich noch gut in Erinnerung: Vom Stand über ein Dach, darüber im Riss ist ein guter, gewachsener kindskopfgroßer Zapfen, an dem kann man gut schütteln, bevor man ihn voll durchzieht um im ziemlich überhändenden Gelände weiterzusteigen. Ich schüttle am Zapfen und ziehe durch – und kurz bevor ich den nächsten Griff nehmen kann beginnt es zu knirschen und ich kippe nach hinten weg. Als der Ruck im Seil mich anhält fällt mir der Zapfen aus der Hand und verschwindet lautlos in der Perspektive. Ich hänge zwei Meter außerhalb von Kurt und er schaut mich grinsend an, der Hund. Zum Glück haben die Gurken da oben gehalten! Also noch einmal… Da wo früher Zapfen, jetzt abschüssige Mulde, nicht mehr zum Schütteln, sondern gleich zum durchziehen. Schnaufend erreiche ich den Stand, wo wir gestern umgekehrt sind. Die nächste, noch unbekannte Länge trifft es den Kurt. Diese Länge gibt noch einmal ordentlich Gas. Sie hängt auf 30m ungefähr 6m über und stellt sicher die Schlüssellänge dar. Kurt kämpft und siegt souverän und keuchend. Der von Kurt aufgezogene Rucksack rauscht nach hinten und zeigt mir gemein die Senkrechte. Oben, im Riss, wo mir Kurt mit seinen Metzgerhänden einen Faustklemmer ansagt, verschwindet mein Arm bis zur Schulter im Riss. Ich muss alles geben und komme weichgesotten und mit Krämpfen am Stand an. Eine Länge im oberen 7. Grad, die sehr weh tut, gibts noch; danach kommt nur mehr Genuss.

Oben angekommen freuen wir uns wie die Kinder und wir können es noch lange kaum glauben, dass wir die ersten sein durften, die diese wunderbare Route frei durchstiegen haben.

Im Zinnenrausch erkundeten wir am übernächsten Tag noch die Superdiretissima – es waren uns ja ein paar Tage übrig geblieben. Fazit: Auch die geht frei! Allerdings müssen etliche Zwischensicherungen ausgetauscht werden; die alten Sticht-Bohrhaken hielten teilweise nicht einmal das Körpergewicht.

Ausblick:

Wie es mit den „endgültigen Maßstäben“ nach W. Pause, siehe /1/, ausschaut, zeigt die weitere Geschichte: Von unserer Begeisterung angesteckt kamen bald einige unserer Freunde und die erste On-Sight-Begehung fiel schon im folgenden Jahr 1988. 2002 beging Alex Huber die Route Free-Solo!